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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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aber es war ihm nicht gelungen. Wann immer er konnte, hatte er sich davongestohlen. Er hatte sich an Baumstämmen gerieben und sich vorgestellt, wie er sie unterwarf, wie er ihr den Hochmut austrieb. Er hatte wieder und wieder seine Hand in die Hose gesteckt, aber der Druck hatte nicht nachgelassen, er war nur noch stärker geworden.
    Am Abend hatte er es nicht mehr ausgehalten und hatte sich unerlaubt von der Kompanie entfernt. Über den Feldweg war er zu einem Gutshof gelangt und hatte sich auf die Lauer gelegt. Als eine Gestalt nach draußen getreten war, hatte er sofort erkannt, dass sie es war. Wie ein wildes Tier hatte er sie angefallen und genommen. Vor Raserei war er blind und taub gewesen.
    Auf einmal hatte ihn etwas hart am Kopf getroffen, und er hatte das Bewusstsein verloren. Erst in diesem Verlies war er wieder aufgewacht.
    »Komm bloß nicht näher, du Hure«, sagte er jetzt und wandte sich an Marcel. »Sag ihr, dass sie verschwinden soll.«
    »Das kann ich mir nicht ansehen«, murmelte der junge Franzose und verließ das Gewölbe.
    Jetzt war er mit der Frau allein. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und entblößten die abgebrochenen Schneidezähne. In ihrer Hand hielt sie eine seltsam geformte Zange. Sie bestand aus zwei langen Eisenstangen, die sich in der Mitte kreuzten und in zwei Scheiben mündeten. Und plötzlich begriff er, was sie vorhatte. Sie wollte es ihm heimzahlen. Sie wollte ihm etwas antun, das so grausam war, dass es kaum mit Worten auszudrücken war. Kalter Schweiß rann zwischen seinen Schulterblättern hinab. In was für einen Alptraum war er da nur geraten?
    »Marcel!«, schrie er. »Komm zurück! Das verstößt gegen jede … MARCEL!«

Zwanzig Jahre später



Im Club von Berlin
    Das Dienstmädchen bat ihn, sich einen Moment zu gedulden, und verließ den kleinen Salon. Dr. Otto Sanftleben verschränkte die Hände auf dem Rücken und biss sich auf die Unterlippe. Seit über sechs Jahren hatte er keinen Vortrag mehr gehalten. Zwar hatte er sich mit Akribie vorbereitet, aber alle Übungen konnten die Praxis nicht ersetzen. Er wusste genau, wie viel vom Gelingen dieses Abends abhing, und er hoffte sehr, dass er sich schnell zurechtfinden würde.
    Um sich etwas abzulenken, nahm er die Einrichtung in Augenschein. Von der Decke hingen große Kronleuchter, die ein helles, strahlendes Licht spendeten. Die Sofas waren mit den beliebten Ripsstoffen bezogen. Auf dem Parkettfußboden lagen großgeblümte Teppiche. Und an den Wänden hingen Ölgemälde in goldenen Barockrahmen.
    Endlich öffnete sich die Tür. Auf langen O-Beinen näherte sich ein hagerer Mann. Er trug einen schwarzen Frack, eine weiße Weste und ein weißes Hemd. »Halb acht war ausgemacht«, sagte er streng. »Sie kommen zu spät.« Das aschblonde Haar war akkurat gescheitelt und klebte, mit Makassaröl getränkt, am Schädel. Die Stirn und die Schläfen glänzten und waren mit Aknenarben übersät.
    »Sie belieben zu scherzen«, sagte Otto und brachte sogar ein Lächeln zustande. Er ergriff die knochige Hand und schüttelte sie ausgiebig. »Verehrter Herr …« Schnell überlegte er, mit welchem Titel er Karl Vitell anreden sollte, der nicht nur einer der zwanzig vermögendsten Männer des Kaiserreichs, sondern auch Kommerzienrat, Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens und Vorsitzender des Clubs von Berlin war. »… Herr Kommerzienrat, ich schätze mich glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Vitell zog seine Hand aus der Umklammerung und sagte: »Ja, ja.« Er verharrte einen Moment, um Otto von Kopf bis Fuß zu mustern. »Ich habe Sie mir älter, vergeistigter und würdevoller vorgestellt, mehr wie einen Gelehrten.«
    Das war eigentlich eine Respektlosigkeit, doch enthielten die Worte mehr als nur einen Funken Wahrheit. Weil er erst fünfunddreißig Jahre alt war, erkannten nur wenige den Wissenschaftler in Otto. Die meisten hielten ihn für einen Mann, der einer mehr körperlichen Beschäftigung nachging – etwa als Veterinärmediziner, Förster oder Kapitän zur See. Er schrieb es seinem gesunden Teint, den markanten Gesichtszügen und seiner kräftigen Statur zu. »Ich trainiere an der frischen Luft«, sagte er. »Das kann ich jedem nur empfehlen, gerade einem Mann in Ihrer Pos –«
    »Jetzt kommen Sie endlich«, unterbrach ihn Vitell und griff nach seinem Arm. »Durch Ihre Verspätung haben wir schon mehr als genug Zeit verloren.«
    Widerstrebend ließ Otto sich ein Stück mitziehen, dann
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