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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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befreite er seinen Ellenbogen mit einem Ruck. So allmählich reichte ihm das Gebaren dieses Mannes. Er musste sich schließlich nicht alles gefallen lassen. Um sich von seiner Pünktlichkeit zu überzeugen, zog er seine Uhr aus der Westentasche und ließ den Deckel aufspringen. Er guckte einmal auf das Ziffernblatt, dann ein zweites Mal. Plötzlich wurde ihm klar, dass sich die Zeiger seit ungefähr einer Stunde nicht bewegt hatten. Möglicherweise war die Uhr noch früher stehen geblieben, und das bedeutete, dass er sich tatsächlich verspätet hatte. Wie peinlich!
    Otto schluckte hart und spürte ein Ziehen in der Magengegend. Das war ihm noch nie passiert! Und ganz bestimmt nicht an einem so entscheidenden Tag. Verunsichert folgte er dem Kommerzienrat in den Saal. Von der rückwärtigen Fensterfront bis zu einem kleinen Podest ganz vorn erstreckten sich fünfzehn voll besetzte Stuhlreihen. Es wurde lebhaft diskutiert, schwadroniert und gelacht. Niemand schien wegen der Verspätung verärgert zu sein. Die gelöste Atmosphäre beruhigte Otto etwas, sodass er sich selbst Mut machte: Eine geringfügige Verspätung war jedenfalls kein Grund, um grob zu werden. Er warf dem Kommerzienrat einen tadelnden Blick zu und reckte sein Kinn stolz in die Höhe. Soweit er aus dieser Perspektive erkennen konnte, war kein einziger Sitzplatz frei geblieben. Die gesamte Prominenz des »Millionenclubs«, wie der Club von Berlin im Volksmund genannt wurde, war gekommen, um seinen Vortrag zu hören. Sein Buch war in aller Munde, er war ein gefragter Mann. Was schadete da eine kleine Verzögerung?
    Vitell hob die Arme und rief: »Meine Herren, der Dozent ist eingetroffen. Meine Herren, bitte! Wir wollen endlich anfangen.« Nach und nach wurde es etwas leiser, bis nur noch vereinzeltes Husten und Stühlerücken zu hören waren. Vitell betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch und sagte: »Als auf der Mitgliederversammlung angeregt wurde, dass in unserer Vortragsreihe ein kriminalpsychologisches Thema behandelt werden sollte, telegrafierte ich der Koryphäe auf diesem Gebiet, dem Autor der ›Psychopathia Sexualis‹, Prof. Krafft-Ebing, nach Wien. Ich bat ihn, mir einen Wissenschaftler zu nennen, der aufgrund seiner Praxisnähe geeignet wäre, vor einem Laienpublikum zu sprechen. Noch am gleichen Tag erhielt ich Antwort. Der Professor berichtete mir, dass ihm ein Buch mit dem Titel ›Phänomenologisches. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie‹ in die Hände gefallen sei, das ihn sehr beeindruckt habe. So ließ ich Erkundigungen einholen und erfuhr, dass das umfangreiche Werk innerhalb eines halben Jahres viermal aufgelegt wurde und die Nachfrage unvermindert anhält. Wer das Buch noch nicht gelesen hat, der soll heute Gelegenheit bekommen, Einblicke in die Forschungen des Autors zu gewinnen. Wer das Buch bereits kennt, dem soll später die Möglichkeit gegeben werden, durch Fragen sein Wissen zu vertiefen. Meine Herren, bitte begrüßen Sie Herrn Dr. Sanftleben!«
    Otto bestieg das Podium und blickte auf das begeistert applaudierende Publikum. Um seine Nervosität in den Griff zu bekommen, rief er sich ins Gedächtnis, dass nicht er, sondern seine fachliche Kompetenz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Als Experte sollte er zu einem wissenschaftlich interessierten Publikum sprechen. Er entnahm seiner Dokumententasche mehrere Bögen Papier und ordnete sie auf dem Pult. Dann hob er die Hände und dankte für die überaus herzliche Begrüßung. Nachdem Ruhe eingekehrt war, atmete er tief durch und begann den Vortrag mit einer Begriffserklärung:
    »Unter der Verbrecherphänomenologie verstehen wir die Untersuchung kriminalistisch relevanter Erscheinungen, die uns Aufschluss über seelische Vorgänge des Täters geben und so die Hintergründe der Tat aufdecken können. Untersuchungsgegenstände sind unter anderem Körperhaltung, Mimik, Gestik und Kleidung …«
    Während Otto fortfuhr, fiel ihm ein älterer Herr in der ersten Reihe auf. Er trug einen altmodischen Gehrock, dessen grober schwarzer Stoff an die Soutane eines Dorfpriesters erinnerte. Sein ausrasierter Backenbart war buschig und von grauen Strähnen durchsetzt. Sein Blick war seltsam starr: leblos und zugleich von einem inneren Feuer erfüllt. Als das Publikum über einen Zwischenruf lachte, presste er seine Lippen aufeinander, seine Hände ballten sich zu Fäusten, und sein Blick schoss wahre Feuerbälle ab.
    Otto konnte sich nicht erinnern, diesem Mann schon einmal
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