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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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aufgegriffen werden, hilft kein Gerede mehr. Dann landen Sie im Gefängnis. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«

In der Arztpraxis, zwanzig Jahre nach Courcelles
    Am nächsten Morgen krabbelten Kakerlaken über seine Haut und drängten sich in seinen Anus, um ihn von innen zu zerfleischen. Er konnte die Spannung kaum noch ertragen, aber wenn er sich hier, vor der Stadtvilla in der Kurfürstenstraße, die Kleider vom Leib riss, um das Ungeziefer zu zerquetschen, würden ihn alle für wahnsinnig halten. Das ist nur Einbildung, dachte er. Das existiert nur in meinem Kopf. Sobald ich meine Medizin habe, beruhigt sich alles. Ungeduldig läutete er, bis sich vor ihm die Tür öffnete.
    »Ist Dr. Saretzki da?«, fragte er hastig.
    »Er ist im Behandlungsraum«, erwiderte das Dienstmädchen und trat schnell zur Seite.
    Er stürmte über die weichen Teppiche. Jeder Schritt schmerzte in den Kniegelenken, die schon seit Jahren von der Knochenerweichung befallen waren. Wehe, er hat die Medizin nicht besorgt!, dachte er. Wehe, er hält mich wieder hin! Durch die riesigen Buntglasfenster fiel das Morgenlicht. Auf einer Vitrine stand ein Samowar, der auf Hochglanz poliert war. Russische Ikonen und Bilder der Zarenfamilie zierten die Wände, doch für all das hatte er keinen Blick. Ohne anzuklopfen, riss er die Tür auf und betrat den Behandlungsraum.
    Dr. Fjodor Saretzki saß in Hemd und Weste hinter seinem Schreibtisch. Er war von kleiner, bulliger Statur. Fast hatte es den Anschein, als würde sein quadratischer Schädel direkt auf den Schultern sitzen. Auf die eingedrückte Nase zwängte sich ein Kneifer, und als er nun sprach, sprang sein Mund wie das Maul einer Muräne vor. »Setzen Sie sich. Ich habe noch zu tun.«
    Hasserfüllt blickte er den Arzt an, der so viel Macht über ihn besaß. Als einziger Mensch hier in Berlin wusste Dr. Saretzki, dass er in Courcelles kastriert worden war. Als einziger Mensch konnte er ihm seine Medizin beschaffen. Nur weil er ihn brauchte, ließ er sich diese Behandlung gefallen.
    Endlos lang kratzte die Feder des Füllfederhalters über das Papier. Irgendwo tickte eine Standuhr. Plötzlich erhob sich Dr. Saretzki und ging zu einem Schrank, wo er die Akte verstaute. Er kam mit einer neuen zurück, setzte sich wieder hin, schlug den Deckel auf und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Dann blickte er auf. Seine grauen blanken Augen erinnerten an Murmeln. »Haben Sie Beschwerden?«
    Er biss die Zähne zusammen und zuckte nur mit den Achseln. Was für eine Frage! Beschwerden!
    »Wie sieht Ihr Harn aus?«
    »Unverändert.«
    »Ist Blut enthalten?«
    Er nickte.
    »Eiter?«
    Erneutes Nicken.
    »Fett und Eiweiß?«
    Wieder ein Nicken.
    »Gegen die Nierenentzündung schreibe ich Ihnen Sodapulver auf. Lösen Sie dreimal täglich einen Esslöffel in Wasser auf und trinken Sie die Mischung in kleinen Schlucken. Es dauert eine Weile, bis die Wirkung einsetzt. Machen Sie sich jetzt frei.«
    »Sie wissen, weshalb ich hier bin«, sagte er, ohne sich zu erheben.
    Dr. Saretzki griff nach einem eisernen Winkelmesser. »Nun machen Sie schon.«
    Widerstrebend stand er auf, trat hinter den Paravent und legte den Frack, die Weste, den Binder und das Hemd ab. Große Überwindung kostete es ihn, den Kattun-Wickel abzurollen. Er war etwa zwanzig Zentimeter breit und zwei Meter lang und verbarg, fest um den Oberkörper geschnürt, seine Brüste, die inzwischen so fest und groß wie bei einem erblühenden Mädchen waren. Sogar die Warzenhöfe waren größer geworden. Mit hochrotem Kopf trat er hinter dem Paravent hervor und flüsterte: »Ich weiß, dass sie gewachsen sind.«
    Dr. Saretzki musterte seinen Oberkörper, die Stellung der Schultern und die Haltung des Halses mit den kühlen Augen des Diagnostikers. »Drücken Sie den Rücken durch und stehen Sie gerade«, sagte er und trat hinter ihn. Mit geübten Händen legte er den Winkelmesser an die Wirbelsäule und bewegte den Schieber auf dem rechtwinklig abstehenden Lineal nach links. »Die Skoliose hat sich verschlimmert. Haben Sie Schmerzen?«
    »Noch bin ich nicht tot«, murmelte er.
    »Ich schreibe Ihnen ein Pulver auf Basis von erdigen Kalkbestandteilen auf. Mischen Sie einen Teelöffel unter jede Mahlzeit. Machen Sie noch die Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur?«
    Er nickte ergeben und trat hinter den Paravent. Längst wusste er, dass die Verkrümmung der Wirbelsäule, die Brightsche Nierenentzündung und diverse Knochenbrüche der vergangenen
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