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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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Doktor, nimmt die Bevölkerung großen Anteil an dem Schicksal der gekreuzigten Handschuhnäherin. Um Unruhe und Angst bei den Menschen zu vermeiden, ist es nötig, schnelle Ergebnisse zu präsentieren. Dabei soll Ihre Methode zur Aufklärung beitragen.«
    Otto schaffte es endlich, seinen Blick von Kriminaldirigent von Grabow zu lösen, und räusperte sich. »Ihr Angebot schmeichelt mir natürlich, Herr Kommerzienrat, aber leider muss ich Sie enttäuschen. In punkto Polizeiarbeit habe ich keinerlei Erfahrung.«
    »Vitell«, sagte von Grabow nun, »haben Sie überhaupt keine Ahnung, mit wem Sie es da zu tun haben? Wissen Sie, wie dieser Schurke von den Wachtmeistern und Droschkenkutschern am Opernplatz genannt wird? Nein? Dann will ich es Ihnen sagen. Man nennt ihn ›Don Quichotto‹.«
    »Dr. Sanftleben soll ein Schurke sein?«, fragte Vitell ungläubig.
    Endlich begriff Otto, was von Grabow so aufbrachte, aber er verspürte nicht die geringste Lust, eine Grundsatzdiskussion zu führen. Der Vortrag war zu gut gelaufen. Er hatte lange auf ihn hingearbeitet und wollte sich den Erfolg nun nicht verderben lassen. »Das ist eine Sache zwischen mir und dem Kommissariat für Fuhrwesen und geht Sie –«
    »Das sehe ich völlig anders«, sagte von Grabow. »Ich sorge nämlich immer und überall dafür, dass man radikalen Elementen wie Ihnen das Handwerk legt.«
    »Meine Herren«, sagte Vitell und glättete nun mit beiden Händen seine Haare. »Ich bitte Sie! Lassen Sie uns vernünftig sein und über den Kreuzigungsfall reden.«
    »Mit diesem Subjekt nicht«, sagte von Grabow. »Dieser Mann ist trotz polizeilichen Verbots achtundzwanzigmal – ich wiederhole: achtundzwanzigmal – von Wachtmeistern aufgegriffen worden, als er Unter den Linden Fahrrad fuhr. Wobei Fahrrad fahren nicht der richtige Ausdruck ist. Man sollte besser sagen: die Straße hinunterraste, um sich dem Zugriff der Staatsmacht zu entziehen.«
    »Ist das richtig?«, fragte Vitell.
    Otto unterdrückte die in ihm aufsteigende Wut und machte sich bewusst, dass er nicht als Einzelperson, sondern stellvertretend für alle Radsportler hier stand. Und eigentlich sollte er nun besser einlenken, das wusste er. Trotzdem konnte er sich eine kleine Provokation nicht verkneifen. »Um genau zu sein«, sagte er und besah sich seinen Daumennagel, »waren es nicht achtundzwanzigmal, sondern neunundzwanzigmal.«
    Von Grabow riss die Augen auf. »Umso schlimmer! Denn jedes Mal wurde ihm ein Bußgeld auferlegt, jedes Mal beglich er den Betrag sofort, jedes Mal wurde er ermahnt, nie wieder Unter den Linden Fahrrad zu fahren, und jedes Mal brach er die Vorschrift aufs Neue. Dieser Mann verspottet die Gesetzeshüter, er erhebt sich über Recht und Ordnung, er ist ein Querulant ohnegleichen.«
    Otto kannte Menschen wie von Grabow. Ständig mischten sie sich in Angelegenheiten, die sie nichts angingen. Ständig verurteilten sie andere, um von den eigenen Fehlern abzulenken. Auf keinen Fall wollte er klein beigeben, aber er wollte sich auch nicht zu einer unbedachten Bemerkung hinreißen lassen, die er im Nachhinein bereuen würde. Deshalb atmete er tief durch und sagte ruhig: »Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Ihnen muss doch klar sein, dass schon bald alle Straßen von Berlin mit Fahrradfahrern bevölkert sein werden. Niemand – auch Sie nicht – kann den Fortschritt aufhalten.«
    »Sie sind nicht nur ein Querulant, sondern Ihnen und Ihresgleichen ist nichts heilig«, platzte von Grabow heraus. »Die Radfahrer stören das sittliche Empfinden jedes anständigen Christenmenschen. Die Betonung der Körperlichkeit geziemt sich nicht. Und stellen Sie sich nur vor, Vitell, unsere Ehefrauen kämen auf die Idee, auf diesen Vehikeln zu fahren. Mit ihren intimsten Stellen würden sie auf dem Sattel hin- und herrutschen und lustvolle Empfindungen verspüren, die sie in einen Zustand der –«
    »Herr Kriminaldirigent«, unterbrach ihn Vitell, »Sie vergessen sich ja!«
    »Keineswegs«, erwiderte von Grabow. »Ich bin vielmehr der Einzige, der die Gefahr erkennt. Diese Fahrräder sind Ungetüme aus Stahl und Blech, die die Sittlichkeit untergraben. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Straßen bevölkern. Wir müssen diese Bewegung bekämpfen, und zwar mit allen Mitteln.« Von Grabow holte tief Luft und bohrte seinen Zeigefinger in Ottos Schulter. »Damit Sie es wissen: In meiner Abteilung haben Leute wie Sie keinen Platz. Und wenn Sie noch einmal Unter den Linden
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