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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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eingetroffen, eine Witwe aus Basel, die der unermüdliche Herr Ganz in seinem Bekanntenkreis gefunden hatte. Bereits nach kurzer Zeit war Anna beruhigt: Frau Trautmann wirkte zwar sehr mütterlich, doch sie wusste sich sehr wohl Respekt zu verschaffen.
    Die Abreise von Lieutenant Wyndham vorzubereiten, war nicht schwierig gewesen. Die Bücherkästen und die schweren Koffer waren bereits in Hennings Obhut nach Zürich vorausgeschickt worden. Annas Habseligkeiten ruhten hinten auf dem Fuhrwerk. Der Schal mit dem Pfingstrosenmuster, den Lady Georgiana am Silvesterabend getragen hatte, lag, sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen, in Annas Koffer. Es war das letzte Stück, das sie an diesem Morgen in ihrer Kammer eingepackt hatte.
    Danach hatte Anna sich vom Splendid und seiner Belegschaft verabschiedet. In all den Jahren im Hoteldienst hatte sie gelernt, dass sich mit jeder Saison alles verändern konnte und Freundschaften selten ausserhalb dieses Rhythmus weiterbestanden. Man verabschiedete sich von Freundinnen, die anderswo in Stellung gingen oder heirateten, und trotz aufrichtiger Versprechen und anfänglichen Bemühungen: Man verlor sich aus den Augen.
    Anna war vorsichtig und zurückhaltend geworden, und so hatten sie die kleinen Abschiedsgeschenke, zahlreiche Notizbücher und von den Pagen eine rote Blechschachtel voller Bleistifte, überrascht und berührt, und sie hatte sogar ein wenig mit Tränen kämpfen müssen.
    Sie würde die Berge vermissen; die schneidend kalte Luft, die gespenstische Ruhe nur unterbrochen vom leisen Knirschen des Schnees unter den Hufen der Pferde – das alles würde ihr fehlen. Doch sie hatte keine Wahl: Sie musste fort.
    Der Lieutenant kehrte in Begleitung von Herrn Ammann vom Friedhof zurück. Anna erinnerte sich daran, dass sie die Beerdigung seines Sohnes verlassen hatte, ohne ihm zu kondolieren. Herr Ammann hatte das wahrscheinlich nicht bemerkt. Er nahm ihre Hand und sagte leise: «Sie haben Jost gefunden und dabei geholfen, herauszufinden, was wirklich mit ihm passiert ist?»
    Anna nickte, und er fuhr fort: «Er hat mir manchmal von Ihnen berichtet, dass Sie ihm viel beigebracht haben für seine neue Stellung. Er war sehr froh über Ihre Hilfe.» Er zögerte, als wollte er noch mehr sagen, aber was er eben erfahren hatte, schien ihn zu überwältigen. «Danke für alles», sagte er nur. «Und Gott behüte Sie!»
    Sie drückte seine Hand, die gross und schwer und von den Felsen gezeichnet in der ihren lag. Er nickte ihr zu und verabschiedete sich dann von Lieutenant Wyndham.
    Sie blickten ihm nach. Er war ein grosser Mann, den das Alter noch nicht gebeugt hatte – doch seine Schritte waren die eines Menschen am Ende des Weges.
    «Dies ist sein letzter Winter», meinte der Fuhrmann düster. «Vielleicht schenkt der Herrgott ihm noch Frühling und Sommer, aber im Herbst wird er bei seinem Buben liegen.» Er machte sich daran, das Fuhrwerk zu wenden.
    Anna war sich nicht sicher, ob der Lieutenant das verstanden hatte, doch sie konnte seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass er ähnliche Gedanken hegte. Er legte ihr leicht eine Hand auf die Schulter.
    «Zeit zu gehen.» Er machte keine Anstalten, seinen Worten Folge zu leisten. Stattdessen holte er tief Luft. «Riecht es jetzt nach Schnee?»
    «Nein», sagte Anna und musste unter Tränen lächeln, «das ist nur die Kälte.»
    ENDE

Personenverzeichnis
    Im Splendid, Belegschaft
    Anna Staufer – ordnungsliebende Gouvernante mit Zweifeln
    Elsa und Marie – aufmerksame Stubenmädchen
    Jakob – unaufmerksamer Nachtportier
    Direktor Bircher – auf Ruf des Hauses bedachter Patron
    Herr Ganz – Concierge, Herr über Schlüssel und Geheimnisse
    Jost Ammann – Kellner, Hausknecht, Valet; auf der Suche nach seiner Berufung
    Henning – Barkeeper mit vielen Talenten
    Charles – Kellner mit Ambitionen zum Barkeeper
    Herr Brehm – Obergärtner mit Stil
    Madame Dubois – Wäschegouvernante mit anglophilen Neigungen
    Hans – bibelfester Hausknecht
    Helen und Edith – Zimmermädchen mit eigener Meinung
    Norbert – Page mit Heimweh
    Agnes – Stubenmädchen mit besorgtem Bruder
    Alexander Mamonov – Kapellmeister mit Logis-Sorgen
    Bedrich Hrdlicka – erste Geige mit charmantem Akzent
    Sowie: Albert, talentierter Ersatz-Barkeeper – Herr Bachmann, geduldiger Eismeister – Dominik Bircher, Sohn des Patrons – Giovanni, wenig talentierter Zuckerbäcker – Fräulein Hartlaub, Annas Vorgängerin – Herr Hoffmann,
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