Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
gelernt.
    Sie liess dem Mädchen keine Zeit zu sinnlosem Händeringen, die Frau Baronin musste notdürftig gereinigt und dann ins Bett geschafft werden. Auf Annas Geheiss besorgte Elsa neues Bettzeug, Laken und Bezüge. Die zerschlissene Matratze wurde umgedreht, mehr konnten sie im Moment nicht tun. Zu viert verfrachteten sie die inzwischen von Früchten und Sauce gereinigte und züchtig bedeckte Freifrau in das Bett.
    Nach einer kurzen Predigt über Schwatzhaftigkeit und den guten Ruf des Hauses schickte Anna Elsa und Marie nach unten, damit sie sich endlich den Salons widmen konnten. Die Zofe sollte weiter die Zimmer der Kleinen Suite aufräumen und sich um ihre Herrschaft kümmern.
    Anna rief Doktor Reber an und bat ihn um einen frühen Hausbesuch. An der Réception meldete sie, dass es einen «Zwischenfall» gegeben habe.
    Bis zum Morgenessen hatte sie noch etwas Zeit. Sie kehrte ins Dachgeschoss zurück, wo die Angestellten des Grand Hotels und die Dienstboten der vornehmeren Gäste, die ohne Dienerschaft nicht reisen konnten, ihre Bleibe hatten. Im rechten Seitenflügel war das weibliche Personal untergebracht – hier teilten sich jeweils mehrere Mädchen eines der kleinen, engen Zimmer unter der Dachschräge.
    Als Gouvernante hatte Anna allerdings eine Kammer für sich. Sie öffnete das Fenster, räumte das Nachthemd weg, machte ihr Bett und schaffte auf dem Waschtisch Ordnung. Auf dem kleinen Beistelltisch, den sie unter dem Fenster als Schreibtisch eingerichtet hatte, lagen ein paar Holzspäne vom Bleistift-Anspitzen. Sie wischte sie mit der Hand in den Papierkorb und rückte den Zettelkasten mit den Notizen zu den regelmässig im Splendid logierenden Gästen gerade. Eine Gouvernante konnte sich keine Unordnung leisten.
    Anschliessend blickte sie prüfend in den Spiegel. Die modischen Damen trugen luftige, weich hochgesteckte Frisuren. Annas Haar war streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen, keine vorwitzige Strähne wagte es, sich unbotmässig herauszustehlen. Bluse und Rock – die Gouvernante des Splendid trug keine Schürze – tadellos. Die Schlüssel und das viel gefürchtete Notizbuch samt Bleistift hingen rechts an ihrem Gürtel, links hatte sie einen kleinen Lederbeutel befestigt, in dem ein Taschenmesser, Näh- und Verbandszeug, Streichhölzer und andere nützliche Dinge verstaut waren.
    Als Gouvernante fiel es ihr zu, mit Notfällen und kompromittierenden Situationen, die weibliche Gäste involvierten, diskret fertigzuwerden. Sie war das Pendant zum Concierge, dem Meister der Schlüssel und Zimmer, dessen Motto, sofern er etwas von seinem Beruf verstand, lautete: Tout voir, tout entendre et ne rien dire.
    Für ihre Dienste und Mühen erhielt die Gouvernante Geschenke und Aufmerksamkeiten der Damen, und erledigte sie besonders delikate Aufgaben erfolgreich, war auch mit Zuwendungen der Herren zu rechnen.
    Anna bekleidete diese Position erst seit zwei Jahren, doch sie hatte seit Ende der Schulzeit in Hotels gedient und war mit den Spielregeln ihres Gewerbes bestens vertraut. Und sie verfügte in Herrn Ganz, dem Concierge des Splendid, über einen verlässlichen Verbündeten. Was der Concierge nicht wusste, das wusste die Gouvernante und umgekehrt.
    Das eiserne Gesetz der vornehmen Gesellschaft lautete schlicht «kein Skandal». Es galt, die Reputation der Gäste und des Hauses zu wahren, alles andere war nebensächlich.
    Anna hatte Gouvernanten gekannt – Musterexemplare an Tugend und Aufrichtigkeit –, die ohne zu zögern das Nötige getan hatten, um den Prinzipien des Hauses allzeit gerecht zu werden, selbst wenn es bedeutete, ein junges Mädchen ins Elend zu jagen. Sie fürchtete den Tag, an dem man so etwas von ihr verlangen würde. Seit sie Gouvernante war, ließ sie keine Dummheiten durchgehen und überwachte gewisse männliche Gäste mit Argusaugen. Sie hoffte inbrünstig und – wie sie insgeheim wusste – vergeblich, dass das ausreichen würde.
    Was die feinen Herrschaften hingegen untereinander so alles anstellten, war nicht Annas Angelegenheit – zumindest solange nicht, bis diese als Teil der Dessert-Karte zu ihren Füssen lagen. Sie hatte inzwischen genug Erfahrung, derlei Szenarien als Herausforderung zu betrachten. Allerdings wurde sie von solchen Eskapaden selten überrascht: Für gewöhnlich wusste sie, welche Gäste im Hause dazu neigten, in Schwierigkeiten zu geraten. Die Frau Baronin hatte sie bisher nicht dazu gezählt.
    Früher waren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher