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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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die meisten Leute ihre unpassende Jugend gar nicht bemerkten. Herr Bircher, der sonst eine adrette Erscheinung bevorzugte, fand ihre Aufmachung durchaus angemessen. Wenn Gäste den Zimmermädchen nachstiegen, war das eine unerfreuliche Erscheinung, die sich aber nicht verhindern liess, ja in gewisser Weise sogar erwünscht war. Ein Hotel mit Zimmermädchen, die das Auge nicht erfreuten, war kein gutes Hotel. Das galt aber keineswegs für Gouvernanten, doch darüber brauchte sich der Patron keine Sorgen zu machen. Sogar Bircher jun., in seinem jugendlichen Überschwang von allem Weiblichen angezogen, hatte um Fräulein Staufer stets einen Bogen gemacht.
    Die Entscheidung, ein Zimmermädchen zur Gouvernante zu machen, war beim Personal nicht gerade auf grosse Gegenliebe gestossen. Lediglich Herr Ganz hatte den Patron in der Auffassung unterstützt, dass Anna Staufer der Aufgabe gewachsen sein würde. Momente wie dieser bestätigten eindrücklich, dass er sich nicht getäuscht hatte.
    Fräulein Staufer hatte die heikle Situation unter Kontrolle gebracht, noch bevor das Hotel richtig zum Leben erwacht war: die Frau Baronin züchtig ins Bett verfrachtet, den Herrn Doktor bestellt, die Suite notdürftig hergerichtet und die Mädchen hoffentlich genügend eingeschüchtert, damit diese wenigstens die pikantesten Details für sich behielten.
    Niemand schien etwas über den nächtlichen Gast der Frau Baronin zu wissen; selbst der unfehlbare Ganz war ausserstande, die gewünschte Information zu liefern, was ihm offensichtlich schwer zu schaffen machte.
    «Sie hat ein Dinner für zwei Personen aufs Zimmer bestellt. Klaus hatte Dienst als Etagenkellner, aber als er auftrug, war niemand im Salon. Er wurde auch bis Mitternacht nicht wieder zum Abräumen gerufen und ging dann einfach zu Bett.» Hier erlaubte sich der Concierge ein empörtes Schnaufen. «Jakob hatte Nachtdienst, und er schwört, nichts gesehen oder gehört zu haben.»
    Herr Bircher schüttelte den Kopf. «Das gibt’s doch nicht. Nach allem, was ich hier höre, muss es sich um ein wahres Gelage mit einigem Radau gehandelt haben.»
    «Pardon», warf Fräulein Staufer ein. «Ich denke, es gibt einen guten Grund, warum niemand etwas gehört hat. Das Ganze muss sich während des 1.-August-Feuerwerks abgespielt haben. Die meisten Gäste sind im Park gewesen, um sich das anzuschauen, und selbst wenn noch jemand in der Nähe der Suite verblieben wäre, er hätte den Lärm wohl dem Feuerwerk zugeschrieben.»
    Wie jedes Jahr hatte der örtliche Fremdenverkehrsverein den Nationalfeiertag mit einem prächtigen Feuerwerk für die Gäste zelebriert. Jedermann wollte das sehen, und auch Angestellte, die eigentlich Dienst hatten, rannten gerne an ein Fenster oder eine offene Balkontür, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen.
    «Ja, so muss es gewesen sein.» Herr Bircher nickte versonnen. «Jemand hat der Dame einen üblen Streich gespielt. Ich nehme nicht an, dass wir je erfahren werden, wer es war. Zuerst müssen wir nun Doktor Rebers Bericht abwarten, dann sehen wir weiter. Sorgen Sie dafür, dass diese unglückselige Episode nicht zum Dorfgespräch wird. Mehr ist da im Moment wohl nicht zu machen.»
    Mit einer ungeduldigen Handbewegung entliess er seine höheren Chargen. Er war hungrig und wollte sich endlich Kaffee und Croissants zuwenden.
    Der Personal-Speisesaal lag im Untergeschoss des Splendid neben dem gewaltigen Küchentrakt, wo im Moment das Frühstück der Gäste vorbereitet wurde. Köche und Servicepersonal hatten schon gegessen, doch die restlichen Angestellten waren eben dabei, sich zum Morgenessen niederzulassen. Als nun Herr Ganz, Herr Neumeyer und Anna dazukamen, wurde es sofort merklich ruhiger.
    Die Episode in der Kleinen Suite hatte zweifelsohne bereits die Runde gemacht. Anna vermutete, dass die bei ihrer Ankunft verstummenden Gespräche gerade dort angelangt waren, wo die phantasievolle Ausschmückung begonnen hätte.
    Herr Ganz warf ihr einen resignierten Blick zu. Selbst wenn Elsa und Marie das Schlimmste für sich behalten hatten, würde doch so einiges herauskommen. Es brauchte zu viele Hände (und Augen), um die Suite wieder in einen passablen Zustand zu versetzen.
    Herr Doktor Reber wartete bereits an der Réception. Er war ein kleiner Mann mit erstaunlich feingliedrigen Händen; umso erstaunter zeigten sich die Gäste ob seiner oft schroffen, kurz angebundenen Art. Anna wusste aus Erfahrung, dass er für seine einheimischen Patienten mehr
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