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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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Geduld aufbrachte. Er hatte eben seine Visite bei der Frau Baronin beendet und versicherte Herrn Ganz und Anna nun, dass es der Dame bald besser gehen würde. Beide wussten, was er mit «leichter Unpässlichkeit» meinte, und nickten nur verständnisvoll.
    Während sich die Frau Baronin von den Strapazen der Nacht erholte, begab sich Anna auf Zimmer-Inspektion und kümmerte sich um allerlei Sorgen und Sonderwünsche. Ein Gast hatte den Bundesfeiertag zu heftig begangen; ein jugendliches Brüderpaar mit einem überforderten Kindermädchen hatte unter den Betten eine gewaltige Schneckenhaussammlung angelegt, wo sie nun den Zimmermädchen das Leben schwer machte.
    Anna besorgte ein Aspirin für den geplagten Herrn und leere Kartonschachteln für die naturhistorische Sammlung. Sie notierte spezielle Blumenwünsche, die sie an Herrn Brehm, den Obergärtner, weiterleiten musste, und beauftragte einen Hausknecht mit der Beseitigung eines prächtigen Spinnennetzes, das über Nacht im Gitterwerk des Liftschachts aufgetaucht war.
    Die Alltagsverrichtungen versetzten sie in eine nachdenkliche Stimmung. Dank der Arbeit in den Hotels hatte sie ihrem alten Leben entfliehen können. Aber es gab immer öfter Momente, in denen sie daran zweifelte, ob dieses Gefühl der Dankbarkeit für ein ganzes Leben der Pflichterfüllung ausreichen würde. Langsam regte sich in ihr Verständnis für die verschrobenen Angewohnheiten ihrer Vorgängerin. Sie war zwar noch nicht so weit, dass sie Sicherheitsnadeln in die Matratzen steckte, um zu kontrollieren, ob die Zimmermädchen diese auch wirklich täglich wendeten, aber sie hatte sich schon bei ähnlichen Gedanken ertappt.
    Manchmal kam sich Anna eingesperrt vor, gefangen in einem Leben, das nicht wirklich ihr gehörte. Das kleine Notizbüchlein half in diesen Momenten. In dem Büchlein, vor dem sich die Zimmermädchen fürchteten und über das – hinter ihrem Rücken, auch wenn sie trotzdem davon wusste – etliche Scherze zirkulierten, fanden sich nicht nur Vermerke über schlecht gemachte Betten oder beim Abstauben übersehene Simse. Anna hielt darin noch etwas anderes fest: Beobachtungen und Eindrücke, die für einen kurzen Augenblick den Raum ihrer kleinen Welt aufbrachen. Wolken, die in der Nacht wie blauer Samt schimmerten; ein silberner Vollmond; tanzende Eiskristalle, in denen sich das Licht brach; Adler über einem Lawinenkegel kreisend auf der Suche nach dem Tod. Was immer es auch war, das Annas Aufmerksamkeit so fesselte, sie hielt es, so gut sie konnte, in Worten fest. Diese Satzfetzen und Eindrücke waren wie Anker, die sie auswarf, damit sie sich nicht selbst verlor hinter dem Bild der altjüngferlichen Gouvernante.
    Am Nachmittag erledigte der Patron die delikate Aufgabe, der inzwischen wieder ansprechbaren Baronin den Umzug in eine andere Suite anzubieten. Herr Ganz teilte Anna später die Einzelheiten dieses interessanten Gespräches mit.
    Die Erklärung der Baronin für die Geschehnisse der vergangenen Nacht trieb dem sonst so gefassten Concierge die Zornesröte ins Gesicht.
    «Sie beschuldigte tatsächlich uns – das Personal –, wir hätten ihr etwas ins Dinner geschmuggelt, das sie sich übrigens nicht erinnern kann, geordert zu haben. Und dann hätten wir in der Suite ein wüstes Gelage gefeiert, und um unsere Spuren zu verwischen, hätten wir sie in ihrer kompromittierenden Lage zurückgelassen, an die sie sich übrigens auch nicht erinnern kann. Aber das will ich gerne glauben!»
    «Ich nehme an, es ist dem Patron gelungen, die gnädige Frau davon zu überzeugen, dass sie an dieser Geschichte nicht festhält?»
    Herr Ganz erlaubte sich ein leicht süffisantes Lächeln. «Aber ja doch, Herr Bircher hat seine Bestürzung zum Ausdruck gebracht und ihr angeboten, sofort ins Hôtel de Paris in Monaco zu telegraphieren, wo der Herr Baron momentan residiert, und dem werten Herrn Gatten von dem grässlichen Unglück zu berichten, damit er an die Seite seiner Angetrauten eilen könne.»
    Der Patron war manchmal erstaunlich durchtrieben. Der Herr Baron hatte in der Textilindustrie ein Vermögen gemacht und stand im Ruf, äusserst geschäftstüchtig – manche sagten rücksichtslos – zu sein. Er würde die Geschichte der Baronin bestimmt nicht glauben und stattdessen aus den Geschehnissen ganz andere Schlüsse ziehen. Schlüsse, die für die Frau Baronin sehr unangenehme monetäre Konsequenzen haben könnten. Anna lachte leise.
    «Und auf einmal konnte sich Frau Baronin
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