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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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Ganz schüttelte ratlos den Kopf und meinte, er müsse wieder an die Réception zurück.
    Inzwischen hatte sich der Grossteil der Gäste im Speisesaal und im Restaurant à la carte niedergelassen. Anna hiess ein paar Hausknechte, die zerstörten Sofas und Fauteuils mit Tüchern abzudecken und in die Remise gleich neben dem Seiteneingang des Splendid zu schaffen. Die Möbel mussten zum Sattler, aber das konnte warten. Die aufgeschlitzte Auslegeware wurde sorgsam zugedeckt in Wäschekörben hinausgetragen, und ein Zimmermädchen entfernte Nippes und allerlei Kleinigkeiten.
    Anna schritt nochmals durch die Räume, um sich zu vergewissern, dass nichts vergessen worden war. Dabei liess sie sich die Theorie des Patrons durch den Kopf gehen. Es sprach einiges dafür: der grobe Sinn für Humor, die Art und Weise, wie die Baronin hergerichtet worden war, und nicht zuletzt die mit einer scharfen Klinge ausgeführten Zerstörungen. Aber nahmen Studenten ihre Säbel oder Degen oder was immer es war, womit sie sich ihre Schmisse zufügten, wirklich mit in die Sommerfrische?
    Ein X kennzeichnete jede Bahn der zerschlissenen Tapeten. Im Lambris darunter waren die Paneele beschädigt worden – man hatte Teile der Intarsienarbeiten herausgebrochen. Weggezerrte Bodenleisten lagen die Wände entlang verstreut. Vergebliche Versuche, das Parkett aufzubrechen, hatten unschöne Spuren hinterlassen. Dazu war wohl eher ein Stemmeisen als ein Säbel benutzt worden, und es musste eine Heidenarbeit gewesen sein – was beides gegen eine studentische Täterschaft sprach.
    Anna war sich inzwischen sicher, dass hier nicht sinnlos zerstört, sondern systematisch nach etwas gesucht worden war. Beunruhigt ging sie mit ihrer Schadensliste ins Direktions-Bureau.
    Nach dem Abendessen vertiefte sich Herr Bircher in seinem Bureau gerne in Privatkorrespondenz. Er pflegte mit diversen Honoratioren und Berühmtheiten, die das Splendid beehrten, einen regen Briefwechsel, der dazu diente, die Loyalität jener Gäste gegenüber dem Haus zu stärken; zudem vermittelten diese Schreiben Herrn Bircher ein Gefühl von Bedeutung. Doch heute wurde er dabei von der Gouvernante gestört, was ihn in eine gereizte Stimmung versetzte. Ungeduldig lauschte er ihren Ausführungen.
    Nun war er über Fräulein Staufers Gewissenhaftigkeit weniger erfreut als am Morgen. Wenn es etwas gab, was er an ihr auszusetzen hatte, so war es diese Art von geistiger Unabhängigkeit, die weder ihrem Stand noch ihrem Geschlecht angemessen war und die man durchaus als Impertinenz auffassen konnte. Nun ja, wenn man einen halben Blaustrumpf einstellte, musste man mit solchen Dingen wohl oder übel rechnen, aber es war schon ärgerlich.
    «Ich bitte Sie, Fräulein Staufer, machen Sie mir nicht die Pferde wild», meinte er scharf und verwünschte sie und das kleine Notizbuch in ihren Händen. «Wenn Sie solche Geschichten verbreiten, haben wir schon bald keine Gäste mehr im Haus. Und überhaupt, wozu die Räume durchsuchen, wenn man dann doch nichts stiehlt? Die Juwelen der gnädigen Frau befinden sich noch alle in der Schmuckkassette – es wurde rein gar nichts gestohlen. Das ergibt überhaupt keinen Sinn, ich will davon nichts mehr hören!» Langsam und deutlich wiederholte er seine Erklärung vom harmlosen studentischen Schabernack, als ob er zu einem Kind, das etwas schwer von Begriff war, sprechen würde, und entliess sie dann ungnädig.
    Zwei Tage später reiste die Frau Baronin frühzeitig ab. Eine kleine Prozession von Portiers erschien schwer bepackt mit Koffern, Hutschachteln und Reisetaschen im Vestibül. Alle, die sich trotz des Rufes der Gnädigen ein wohlverdientes Trinkgeld erhofften, versammelten sich beim Haupteingang. Anna, die wusste, was von der Freifrau zu erwarten war, beobachtete das Geschehen aus dem Hintergrund.
    Nach dem Gespräch mit Herrn Bircher hatte sie ihre Bedenken wegen des Vorfalls für sich behalten. Wenn der Patron es so wollte, dann hatte sich hier ein akademischer Scherz zugetragen und damit basta. Aber Anna war froh, dass die Dame nun abreiste.
    Frau Baronin erschien gekleidet in ein dunkelrotes Kostüm mit schwarzen Samtbesätzen, dazu trug sie einen Hut mit asymmetrischer Krempe. Das Ensemble, das ihren Gatten wohl einiges gekostet hatte, liess die Dame grösser und schlanker aussehen, als sie war.
    Die elegante Erscheinung verschwand im Bureau des Direktors, wo sie aber nicht lange verweilte. Schon bald darauf tauchte die Frau Baronin leicht
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