Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
Besitzer einer kleinen Villa am Zürichsee, von der aus man die fernen Berge sehen konnte.
    Er quittierte den Dienst, was von fast allen Seiten mit Verständnis bedacht wurde. Das Verständnis fand ein Ende, als seine weiteren Pläne bekannt wurden. Auf Nachsicht mit den Launen eines Invaliden folgte ungeduldige Empörung.
    «In die Schweiz ziehen und Poesie übersetzen – ich bitte dich! Das kann nicht dein Ernst sein. Deine Talente sind auch eine Verpflichtung, wie kannst du dich nur so vergessen», hatte Cecil Seymour geschnauzt.
    Der beste Umgang mit Cecil war, ihm nicht zu viel Beachtung zu schenken. Doch ein paar Herrschaften aus Cecils Dunstkreis hatten sich als recht hartnäckig erwiesen. Sie tauchten immer wieder auf und versicherten Christian, dass es für ihn auch ausserhalb der Royal Navy wertvolle Aufgaben gäbe und dass andere Regierungsstellen Seiner Majestät sich glücklich schätzen würden, ihn in ihre Reihen aufzunehmen. Es hatte eine Weile gedauert, bis diese Rekrutierungsversuche aufgehört hatten.
    Doch Zürich lag nicht in den Alpen, Christian hatte das nicht vergessen. Nachdem die Ärzte nichts dagegen einzuwenden hatten, suchte er nach einem Hotel in den Bergen, in dem er die kommenden Wintermonate verbringen konnte.
    Erstaunlicherweise erhielt er nun auf einmal von allen Seiten aufmunternde Zustimmung und zahlreiche hilfreiche Vorschläge, wenn auch nicht alle besonders taktvoll gerieten. Es kam vor, dass man ihm von wundervollen Eisfeldern und prächtig angelegten Rodelbahnen vorschwärmte – gefolgt von betretenem Schweigen, wenn den Sprechenden wieder einfiel, dass er mit diesen Sportanlagen ja nichts mehr anzufangen vermochte.
    Dass sein Zustand zu so vielen Peinlichkeiten Anlass gab, war ein weiterer Grund, England zu verlassen. Er sehnte sich nach einem Ort, wo man ihn nicht kannte. Wo Ruhe herrschte und er sich in eine längst vergangene Welt versenken konnte. Cecil mochte bei dem Gedanken noch so empört schnaufen, aber Christian empfand es keineswegs als Zeitverschwendung, sich den Worten einer Hofdame zu widmen, die vor tausend Jahren beschrieben hatte, wie sich frisch gewaschene Seide anfühlt.
    Die Welt tanzte wie ein wild gewordener Kreisel auf den Abgrund zu, und niemand konnte dem Einhalt gebieten. Man hielt kurz den Atem an, wenn deutsche Kanonenboote vor Agadir eintrafen; man registrierte das Unbehagen der Diplomaten, wenn auf dem Balkan erneut Schüsse ertönten. Es kam zu Konferenzen und Verträgen, und alles schien wieder gut, doch in diesen Beschlüssen war bereits die Saat für die nächste Krise angelegt. Gegen die immer schrilleren Stimmen, die von «Vergeltung» und «Erbfeindschaft» faselten, hatten die Idealisten und Träumer nichts auszurichten. Ihre Ideen brachten niemandem Ruhm, Kolonien oder lukrative Rüstungsaufträge ein. Ob es Krieg zwischen den grossen europäischen Mächte geben würde, war schon lange nicht mehr die Frage – nur das «Wann» verblieb noch offen. Geahnt hatte Christian das schon lange, doch nach seinen letzten Aufträgen war er sich dessen sicher. Und nun war er auch nicht mehr in der Lage, im Kriegsfalle seine Pflicht zu erfüllen, an die er zwar nicht mehr glaubte, aber die er doch auf sich genommen hätte, damit kein anderer es tun musste.
    Die freundlichen Herrschaften, die mit unwillkommener Regelmässigkeit an seinem Krankenbett aufgetaucht waren, hatten zwar gemeint, er könne der Krone immer noch dienen. Aber ein Krüppel – ein Wort, das sie tunlichst vermieden – kam nicht mehr zum Einsatz; er würde hinter einem Schreibtisch sitzen und Order erteilen. Andere müssten Aufträge ausführen, die er nicht mehr erledigen konnte noch erledigen wollte. Es war besser, er widmete sich den leisen Dingen, die es verdienten, Bestand zu haben, und um die sich im kommenden Sturm kaum jemand mehr kümmern würde.
    Vor Christian lag ein Schreiben von Doktor Fuller, seinem alten Hausarzt. Er griff vorsichtig danach und stellte erleichtert fest, dass seine Hand heute nicht zitterte. Der Doktor war persönlich mit dem Direktor jenes Hotels bekannt, das Christian von vielen Bekannten wärmstens empfohlen worden war, und so hatte er ihn um Hilfe gebeten. Doktor Fuller willigte – etwas zögernd, wie es Christian schien – ein, ihm ein Empfehlungsschreiben zu verfassen.
    ***
    Zwei Mal im Jahr – im Frühling und im Herbst – schlossen alle grossen Hotels ihre Tore für die Zwischensaison, in der sich nur selten Gäste in die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher