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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
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nicht genutzt worden. Hier würden ihn seine Kameraden niemals finden.
    Der französische Soldat griff nach einem Schemel und setzte sich. Obwohl er noch jung war, vielleicht Anfang zwanzig, lichtete sich sein Haar bereits. Auf seiner linken Wange klaffte ein Schnitt – wie von einem Bajonett –, der glasiges Wundsekret absonderte. Sein Hemd war bis zum Nabel aufgeknöpft und hing aus der Feldhose. »Wenn du meine Fragen beantwortest«, sagte er, »werde ich dir nichts tun. Ich heiße Marcel.«
    Er sprach gut Deutsch, wahrscheinlich hatte Marcel eine höhere Schulbildung genossen. Vielleicht war er ein zivilisierter Mensch, mit dem man reden konnte. Aber warum hatte er das »ich« so betont? Wartete oben jemand anderes, der ihm etwas antun wollte? In seiner Lage wäre er ihm hilflos ausgeliefert. »Nimm mir bitte die Ketten ab!«, sagte er. »Die Eisenringe schmerzen, sie schneiden mir ins Fleisch.«
    Unmerklich schüttelte Marcel den Kopf. »Bei welcher Einheit dienst du?«
    »Was?«
    Marcel zog einen Dolch. »Bei welcher Einheit dienst du?«
    Er verstand die Drohung, aber vielleicht war das Verhör die einzige Chance, um hier lebend herauszukommen. »Lässt du mich gehen, wenn ich antworte?«
    »Los jetzt, du verdammtes Schwein! Noch mal frag ich nicht.«
    »Ist ja gut«, stieß er hervor. »Ich diene beim vierten Königlich Preußischen Garderegiment zu Fuß, erstes Bataillon, dritte Kompanie.«
    »Wie heißen deine Führer?«
    »Ich versteh nicht, warum … Mein Kompanieführer ist Secondeleutnant von Hellermann, sein Stellvertreter Secondeleutnant der Landwehr Ramslau. Mein Bataillonskommandeur ist Major von Sichart. Oberst von Neumann wurde bei Saint-Privat-la-Montagne verwundet, deshalb haben wir einen neuen Regimentsführer – Major von Tietzen und Hennig.«
    »Hast du auch bei Saint-Privat gekämpft?«
    Natürlich hatte er gekämpft. An der Erstürmung mehrerer Häuser und Straßenzüge war er beteiligt gewesen, aber er spürte instinktiv, dass die Frage gefährlich war. »Keinen Schuss hab ich abgefeuert«, log er. »Unsere Kompanie lag in Reservestellung. Bei starken Verlusten sollten wir die Linie auffüllen, aber wir sind nicht zum Einsatz gekommen.«
    »Ich hab gekämpft«, sagte Marcel. »Mein Bruder auch, aber –«
    »Marcel! Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich war nicht meine Idee. Wenn's nach mir ginge, wären wir nie hergekommen. Ich will dieses Gemetzel nicht, ich bin ein Menschenfreund, das musst du mir glauben.« Er leckte sich die spröden Lippen.
    Da quietschte die Türangel erneut.
    Er hob den Kopf und lauschte angestrengt. Die Stufen knarrten, aber nicht so laut wie beim ersten Mal. Das konnte nur bedeuten, dass weniger Gewicht auf dem Holz lastete, dass die Person also leichter war. Vielleicht stieg ein Kind oder – oh Gott! – eine Frau herab. Seine Mundwinkel zuckten. »Wer ist das?«
    »Wir unterhalten uns später, du Menschenfreund«, erwiderte Marcel und steckte den Dolch weg.
    »Ich kann Geld beschaffen! Viel Geld – hörst du? Wenn du mich gehen lässt, kannst du es haben.«
    Plötzlich sah ihn der junge Franzose direkt an und sagte: »Ich hab versucht, es ihr auszureden. Eine ganze Stunde lang, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
    »Wovon zum Teufel sprichst du?«
    »Ich sagte, dass sich eine große Seele nicht von niederen Gefühlen beherrschen lassen darf. Ich sagte, dass man im Krieg Regeln einhalten muss. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ein Standgericht abgehalten und dich dann wie einen tollwütigen Hund abgeknallt, aber sie …«
    In diesem Moment humpelte eine junge Frau herein. Unter einer Arbeitsschürze trug sie ein schlichtes blaues Wollkleid. Das blonde Haar reichte ihr bis zum Gesäß. Ihr Gesicht ließ eine stolze Schönheit erahnen, aber die Züge waren kaum noch zu erkennen. Ihre Augen waren zugeschwollen. Auf ihren Wangen prangten Blutergüsse. Die Lippen waren aufgeplatzt, und der Hals wies Würgemale auf.
    Er kannte die Frau. Zum ersten Mal hatte er sie auf dem Gutshof von Monsieur Wegener gesehen, wo seine Kompanie nach Waffen gesucht hatte. Als sie sich entfernt hatte, hatte sie sich von einem Stallburschen begleiten lassen, um sich vor den Zudringlichkeiten der deutschen Soldaten zu schützen. Majestätisch war sie die morastige Dorfstraße hinunterstolziert und am Ortsausgang in einen Feldweg abgebogen, wo sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
    Den ganzen Tag hatte er versucht, ihren aufreizenden Anblick zu vergessen,
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