Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
begegnet zu sein. So beschloss er, den Blickkontakt zu meiden, um sich ganz auf seine Ausführungen konzentrieren zu können. Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätzen und Sätze zu einem Vortrag. Zu seiner eigenen Verwunderung gewann er schnell an Sicherheit, so als hätte er seine Vortragstätigkeit nie länger unterbrochen. Die Zeit verstrich wie im Flug, und ehe es sich Otto versah, machte Kommerzienrat Vitell durch ein Handzeichen auf sich aufmerksam und schwenkte seine Taschenuhr über dem Kopf.
    Otto nickte ihm zu und sagte zum Publikum gewandt: »So leid es mir tut – gerade bekomme ich ein Zeichen, dass eine Stunde schon vorüber ist. Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch ein paar grundsätzliche Worte sagen. Die Verbrecherphänomenologie soll keine verbindliche Merkmalslehre aufstellen, die den Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt. Vielmehr soll sie als Hilfswissenschaft dienen, welche Denkanstöße geben und Verdachtsmomente modifizieren kann. Nur so gibt sie den ermittelnden Behörden ein Instrument an die Hand, das zur Überführung von Kriminellen beitragen kann.« Otto nahm die Papierbögen auf und klopfte sie auf dem Pult gerade. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
    Das Publikum erhob sich von den Plätzen und klatschte begeistert Beifall. Einige Herren riefen sogar: »Bravo« oder »Bravissimo«.
    Otto machte eine beschwichtigende Geste. »Danke, danke! Das ist zu viel der Ehre«, sagte er bescheiden, bekam aber vor lauter Stolz rote Flecken im Gesicht. Was kann mir jetzt noch passieren?, dachte er.
     
    Nach dem Vortrag erschien das Dienstpersonal, um den Saal für das Festessen vorzubereiten. Während Stühle zur Seite gestellt und Tische hereingetragen wurden, verteilten sich die Zuhörer auf das Billardzimmer, die Bibliothek, das Spielzimmer und die beiden Salons.
    Otto fand sich im Lesezimmer wieder, wo er sich sogleich von zahlreichen Clubmitgliedern umringt sah. Im Überschwang der Gefühle griff er nach einem Glas Clicquot und stürzte den Champagner in einem Zug hinunter. Das hat gutgetan, dachte er sich, stellte das leere Glas auf ein Tablett und nahm sogleich das nächste. Während er dieses Mal genussvoll trank, beantwortete er die Fragen, die nun von allen Seiten auf ihn einprasselten.
    Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kommerzienrat Vitell in die Tür trat, sich suchend nach ihm umschaute und sich auf seinen langen Säbelbeinen näherte. »Das haben Sie famos hingekriegt«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie den schroffen Empfang von vorhin. Wir haben heute wichtige Gäste, und ich wollte sie nur ungern noch länger warten lassen.«
    »Herr Kommerzienrat«, erwiderte Otto. »Ich bitte Sie. Sie hatten ja vollkommen recht. Ich war wirklich zu spät. Meine Uhr ist offensichtlich stehen geblieben. Das tut mir außerordentlich leid.«
    »Entschuldigung angenommen«, sagte Vitell sofort. »Und jetzt: Schwamm drüber. Dann können wir uns anderen Dingen zuwenden. Ich möchte Ihnen nämlich jemanden vorstellen.«
    Otto blickte auf einen hoch aufgeschossenen älteren Mann, der dem Kommerzienrat gefolgt war. Seine stark gewölbten Augenbrauenbögen beschatteten metallisch glänzende und seltsam starr blickende Augen. Die Stirnfalten waren tief wie Ackerfurchen, und die aufeinandergepressten Lippen bildeten zwei messerscharfe Linien. Es war der Mann, der Otto während des Vortrags so feindselig angestarrt hatte.
    »Das ist Kriminaldirigent von Grabow«, sagte Vitell. »Er ist der Leiter der Abteilung IV des Polizeipräsidiums von Berlin.«
    Der Kriminaldirigent?, dachte Otto überrascht. Er konnte sich nicht erklären, wieso der Leiter der Kriminalpolizei etwas gegen ihn haben sollte. Möglicherweise hatte er die Blicke falsch gedeutet, oder es lag eine Verwechslung vor. Mit Sicherheit würde sich alles schnell aufklären. »Ich hoffe«, sagte Otto, »dass mein Vortrag Ihr Interesse wecken –«
    »Mich können Sie nicht täuschen«, unterbrach ihn von Grabow. Seine außergewöhnlich hohe und schrille Stimme passte nicht zu seiner gravitätischen Erscheinung. »Ich weiß sehr wohl, wer Sie sind, und vor allem weiß ich, was Sie sind.«
    Kommerzienrat Vitell fuhr sich irritiert über die Haare, so als könnte er mit einer geordneten Frisur die Situation besser kontrollieren. »Die Abteilung des Kriminaldirigenten bearbeitet den Kreuzigungsfall«, sagte er, offenbar in der Hoffnung, von Grabows seltsamen Einwurf überspielen zu können. »Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, Herr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher