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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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können alle sehen, dass meine Berechnungen stimmen – wir haben unser Geschöpf auf einen großen, grauen, mobilen Stahlwagen gesetzt, der sich ganz nach Bedarf drehen lässt. Der Mechanismus ist noch zu sehen, darüber befinden sich die Spiegelplatte, die Glasstäbe, die Umrandung mit Silberlaub, der silberne Leib und der geschmeidige Hals mit seinen glänzenden, säuberlich und lückenlos aufgezogenen Ringen.
    Um vier hält es der Arme am Lowndes Square nicht länger aus und kommt mit seinen kreppbesohlten Schuhen, glatt rasiert, noch feucht vom Penhaligon Aftershave und im schmalen Nadelstreifenanzug wie aus einem Bild von Beckmann. Dabei lässt ihn der Anzug moralisch eher fragwürdig aussehen, so dass man ihm wie einem der Männer bei Beckmann begegnet, ein bisschen unsicher.
    »Kein Schnabel?« Er wirft einen Blick aufs Uhrwerk, mustert die stiftstarrende Musikwalze.
    »Hätte ich das Uhrwerk lieber verkleiden sollen?«
    »Nein, so ist es viel besser«, antwortet er, ist aber offensichtlich angespannt.
    »Ich könnte Harold eine Verschalung aus Sperrholz bauen lassen. Wir haben noch zwei Stunden Zeit.«
    Er starrt mich an. Ich vermute, er denkt darüber nach, und mir tut es leid, den Vorschlag gemacht zu haben.
    »Wo ist der Schnabel, Catherine?«
    Letzte Woche hätte mich das beleidigt, heute lächle ich. »Machen Sie sich wegen des Schnabels keine Sorgen, schauen Sie sich die Bewegung an.«
    Amanda trägt zur Feier des Tages einen eigenartig weißen Laborkittel. Mit dem zurückgebundenen blonden Haar und ihrer Brille macht sie einen herrlich deutschen Eindruck.
    »Miss Snyde«, sagte ich, »würden Sie bitte einmal den Mechanismus aufziehen?«
    »Ja, Miss Gehrig.«
    Nach all unseren Missstimmungen haben wir jetzt eine gute Zeit.
    »Sie haben den Schnabel doch, oder?«, fragt Eric.
    »Warten Sie.« Ich nehme seinen Arm. »Schauen Sie.«
    Natürlich wird er es lieben. Schon zeigen sich erste Lachfältchen um seine Sing-Song-Augen.
    Ich bin die Konservatorin, räume meiner Assistentin aber das Privileg ein, den Mechanismus für unsere erste richtige Generalprobe aufziehen zu dürfen. Sobald ich nicke, zieht sie den Stift. Der Hals beginnt mit der ersten, ziemlich komplizierten Bewegungsabfolge, und eine Brahmsmelodie begleitet die seltsam raubvogelhaften Drehungen.
    »Stopp.«
    »Nein«, ruft Eric. »Nein, bitte nicht, Catherine.«
    »Haben Sie das gesehen?«, frage ich Amanda, obwohl es dem alten Sing-Song-Experten natürlich auch aufgefallen ist.
    »Im ersten Abschnitt, ja.«
    Wir sehen uns den ersten Abschnitt noch einmal an, und es besteht kein Zweifel, ein irritierendes Schaudern hemmt die fließende Bewegung. Ehe die Halsringe angebracht wurden, hatte man das nicht sehen können, doch nun zerstört es die Wirkung, den geschmeidigen, unheimlich sinnlichen Eindruck.
    »Wir haben Zeit«, sage ich.
    »Nein«, antwortet Eric. »Lassen Sie das verdammte Ding in Ruhe.«
    Er glaubt, es wäre ein Risiko, aber da irrt er sich.
    Der Catering Service und die Leute der Öffentlichkeitsarbeit treffen zusammen ein. Ich sage Amanda, sie solle sich drum kümmern. Eric hält meinen Arm. »Jetzt bestrafen Sie mich nicht auch noch.«
    »Wissen Sie, das liegt am alten Museumswachs. Gleich funktioniert es einwandfrei.«
    »Sie wollen doch wohl nicht die verdammten Ringe abnehmen, oder?«
    »Doch, das will ich.«
    Eric sieht mir einen Moment zu, dann geht er.
    Amanda ist perfekt, zumindest sind es ihre Medikamente. Sie kommt zu mir zurück, und gemeinsam ziehen wir die Ringe ab. Ich bin so stolz auf uns, auf unsere Choreographie.
    Das Wachs zu entfernen, dauert etwa dreißig Minuten, und während dieser langen Ruhephase höre ich, wie Eric sich aufgebracht mit dem PR -Menschen unterhält, einem merkwürdigen Colman-Getty-Jungen mit einem Bausch aufgetürmter Locken.
    Als wir präzise achtundzwanzig Minuten später fertig werden, fällt mir auf, dass Eric mich beobachtet.
    »Und jetzt der Schnabel.«
    »Ja«, sagt er ohne jede Begeisterung.
    Ich nehme meine Diebestasche vom Haken hinter der Tür, fische vor aller Augen nach dem Schnabel, wickle ihn aus den Kleenextüchern und fixiere ihn mit zwei Whitworth-Messingschrauben, die Amanda in die trockne Schale meiner gewölbten Hand legt, an dem sauberen Stahlknopf des Untoten.
    Um 17 . 55 Uhr gehe ich mir die Hände waschen, und erst als ich zurückkehre, verrät Eric, dass die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit die ganze Aktion bereits vor einer halben Stunde abgeblasen
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