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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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eine kleine, sonderbare, Ammoniak verströmende Drogerie, in der ich mir schon einen Deostift und Shampoo gekauft hatte. Es gab keinen Kassierer, keine Verkäuferin, nur den grauen, krummschultrigen, kleinen Drogisten, der unter einer schrecklichen Erkältung litt. Der Laden war ein Durcheinander aus Kartons, elektrischen Ventilatoren und Menstruationsbinden, weshalb es eine Weile dauerte, bis er Wattebäusche und Brennspiritus gefunden hatte.
    »Keine Tüte«, sagte ich und wollte nach meinen Einkäufen greifen, doch musste offenbar eine Quittung geschrieben werden. Als der Alte den vergilbten Durchschlag aufspießte, fiel mir mein Vater ein, wie er neue Batterien einsetzte und dann nach oben ging, um sich ein Schlückchen zu genehmigen.
    Endlich war ich wieder auf der Straße, das Rose and Crown lag direkt vor mir und nahm die ganze Ecke ein, renoviert, mit blauen Fliesen, hellgrünen Schirmen und einer überraschend großen Trinkermenge vor der Tür – englische Haut, halb zu Tode verbrannt.
    Ich erregte ein wenig Aufmerksamkeit, was eigentlich schon irgendwie okay war, schließlich wollte man sexuell ja noch nicht völlig unsichtbar sein. Andererseits ist so eine gellende Meute ziemlich widerlich; ihr Geheul folgte mir die Treppe meines ›Domizils‹ hinauf.
    Ich öffnete ein Fenster und breitete die Sachen auf dem Sims aus – es war so breit, dass die Flasche Brennspiritus drauf Platz fand. Dann griff ich nach der Watte, verteilte sie auf einem Stück Stoff und legte den Schnabel daneben; der Rest war nicht gerade Hirnchirurgie. Kaum drei Minuten später legte der Alkohol die silberne Einlegearbeit am unteren Schnabel frei.
    Dann verstand ich, warum Henry ›Trottel‹ geschrieben hatte.
    Angesichts eines
Illud aspicis non vides
kam ich mir auch wie ein Trottel vor.
    Ich saß auf der rutschigen Synthetikdecke und fragte mich, wen ich anrufen und bitten konnte, mir den Satz zu übersetzen. Und während ich jene rosafarbenen und blassblauen Drucke an den Wänden anstarrte, wie man sie nur in Hotels findet, ging mir auf, dass ich wirklich überhaupt keine Freunde hatte.
    Jahrelang hatte ich in jener trägen, trügerischen Welt der Paarsamkeit gelebt, die auf so herrliche Weise von einer privaten Sprache und den ganz eigenen, genüsslichen Unduldsamkeiten gegenüber allen Außenstehenden getragen wird. Natürlich
kannte
ich eine Menge Leute und verkehrte auch freundschaftlich mit vielen, doch hatte ich die Tür zugeschlagen, als Matthew starb. Über Nacht war ich eine alte Jungfer geworden. Mein Vater und meine Mutter waren tot; meine Schwester wollte nicht länger mit mir reden.
    Illud aspicis non vides.
    In all den Jahren, in denen ich die geheime Geliebte gewesen war, hatte ich geglaubt, mich mit dem Alleinsein auszukennen, und hatte doch im Hals nie diese steinerne Schwere der Einsamkeit gespürt. Nun konnte ich niemand anderes mehr als jenen Menschen anrufen, dessen Freundlichkeit bereits mehrfach von mir missbraucht worden war.
    Als Crofty sich meldete, hörte ich Musik, irgendwas Kompliziertes, dachte ich, womit ich meinte, dass sie mein Verständnis überstieg.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich, sobald ich seine Stimme hörte, und war doch sehr erleichtert.
    »Einen Moment.«
    Die Musik wurde leiser gestellt. Es dauerte, bis er zurückkam.
    »Ich störe Sie. Entschuldigen Sie.«
    »Meine Liebe«, erwiderte er, »hier gibt es nichts, was Sie stören könnten.« Ich musste daran denken, dass er auch einmal Teil eines Paares gewesen war.
    Von meinem offenen Fenster aus konnte ich zwei Männer sehen, die ein junges, sehr betrunkenes Mädchen stützten, eine armselige, wankende Gestalt mit dämlichen Schuhen, pummeligen Beinen und kurzem Rock. Gott helfe ihr. Ich konnte nicht hinsehen.
    »Wo sind Sie? Doch nicht in diesem grässlichen Pub, oder?«
    »Was Sie hören, heißt hier Happy Hour.«
    Es folgte eine Pause, dann sagte Crofty: »Möchten Sie, dass ich zu Ihnen komme?«
    Es wäre so eine große Erleichterung gewesen, aber natürlich konnte ich mich darauf nicht einlassen.
    »Wie ist Ihr Latein?«
    »Eingerostet.«
    »Aber noch ganz brauchbar?«
    »Möglich.«
    »Was heißen folgende Worte:
Illud aspicis non vides

    »Wo ist der Schnabel?«, fragte er, und ich merkte, dass er leicht angesäuselt war.
    »Sie wissen, wo der Schnabel ist«, antwortete ich. »Und ich wäre sehr erstaunt, wenn Sie es nicht gelesen hätten.«
    »Wissen Sie, meine Liebe«, sagte er, und mir war klar, dass er dabei sein Glas
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