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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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wir in ihr wohnen – Schiefer platzt, Nägel reißt es aus dem Holz, ja, der ganze Kuckucksbau scheint im Wind zu erzittern, der heftig durch die dunklen Felsen der Klamm fegt. Frau Helga rennt zwischen Haus und Gasthof hin und her (zumindest vermute ich, dass es der Gasthof ist), rennt wie getrieben, wenn auch nicht von einem Uhrwerk, so doch gewiss von einer angespannten Feder, ein vorherbestimmter Bewegungsablauf, der wohl nicht zu ändern ist. Sie kehrt zurück, um ihren Koffer zu packen, jedes Mal auf dieselbe Weise, faltet die fadenscheinigen Kleider so sorgsam, als seien sie Ballgarderoben. Und wie ein Zollbeamter (wütend also) packt Sumper sie wieder aus, mit jedem Mal heftiger. Sie läuft zum Gasthof. Sie kehrt zurück. Sie weint.
    Herr Sumper hat ein blaues Auge, wie aber und bei welcher Gelegenheit er sich das geholt hat, ist mir ein Rätsel.
    Frau Helga scheint noch immer in finanziellen Verhandlungen mit der Gastwirtin zu stehen. Geht es um den Schwan? Ich weiß es nicht. Ihre Gespräche mit Sumper kann ich laut und deutlich hören. Alle Geräusche werden durch die Schütte verstärkt, die zur Werkstatt führt.
    »Sie hat sich immer um mich gekümmert«, sagt sie. »Sie wird einen guten Preis erzielen.«
    »Sie ist eine Puffmutter«, sagt Sumper.
    Plant sie etwa, frage ich mich, das eingenommene Geld für den Schwan auszugeben?
    Sie schreit ihn auf Deutsch an, hämmert mit den Fäusten an die Wand, an die Tür, vielleicht gar auf den Boden. Ich würde es ihr zutrauen, dass sie ihm zu Füßen liegt.
    »Du bist frei«, höre ich ihn sagen, obwohl die Fenster im Rahmen klappern. Er sagt: »Frei wie ein Fisch im Wasser.« Er sagt, sie könne gehen, wann immer sie wolle, er sei ein Mann, der zu seinem Wort steht, das wisse sie, deshalb würde er Carl nach Karlsruhe zurückbringen, sobald der Schwan fertiggestellt ist.
    Dann wehklagt sie in ihrer Angst auf Deutsch. Weiß der Himmel, was das zu bedeuten hat.
    Er sagt, das neue Zugpferd sei nichts für sie. Sie solle mit der Kutsche fahren, er würde dafür aufkommen.
    Man rechnet jede Stunde damit, dass Monsieur Arnaud den Schnabel fertigstellt. Wird die Bordellbesitzerin dafür zahlen? Ist er bereits bezahlt? Ich stelle ihn mir vor, wie er allein mitten im Wald steht, in Schwarz gewandet, halb Vogel, halb Mensch. Welches Kind würde sich nicht vor einem solchen Schnabel ängstigen?
    Der kolossale Automat, den ich so verzweifelt heraufbeschwor, wird in der sogenannten Sommerwerkstatt in eisiger Kälte auf einen schweren Karren montiert. Sumper und der Junge arbeiten weiter, obwohl die Karrenräder im Weg sind.
    Ich werde meinen Schwan bekommen. Ich werde ihn nach Hause bringen. Man wird das Zugpferd die lange, niedrige Rampe hinaufbugsieren, und von dort trägt man meine Maschine dann ins Tageslicht wie einen Heiligen bei der Prozession.
    Sumper fährt fort, die flinke, dralle Frau Helga eine ›dumme Frau‹ zu nennen.
    Immer wieder beharrt Frau Helga darauf, dass sie keine andere Wahl gehabt habe, da ›Herr Brandling seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen‹ sei.
    Niemand bittet mich auch nur um einen Schekel.
    Immer wieder sagt Sumper, sie habe ihr ›Schicksal besiegelt‹, als sie den Katholiken zeigte, was reine Privatsache bleiben sollte.
    Mittlerweile vermute ich, dass es zwischen Automat und blauem Auge einen Zusammenhang gibt. Sie verschwenden Percys Zeit. Es kommt zu Zwistigkeiten in der Flusswerkstatt, auch in der Sommerwerkstatt, in die ich nicht darf. Der Streit hält beim Abendtisch an, die ganze Nacht, hallt in der Klamm wieder und ist so unausweichlich wie die Feuchtigkeit, so erbarmungslos wie der Fluss. Ich fürchte, wir haben alle Angst.
    Jeden Augenblick denke ich an meinen englischen Jungen. Es wird nicht der mindeste Versuch gemacht, den deutschen Jungen mit den Ansichten der Erwachsenen zu verschonen, und manchmal vermute ich – da sie beide selbst dann, wenn sie sich in unverzeihlicher Manier beleidigen, auf Englisch sprechen –, dass sie eine Art Kasperletheater aufführen, um mich zu täuschen oder mir anzulasten, dass ich an alldem schuld sei. Doch was soll ich machen? Mein Bruder hat Aktien der Bank von Ohio gekauft.
    »Er ist ein Kind«, sagte Frau Helga. Über Carl.
    Er ist ein eigenartiges Kind – der aufmerksame Blick huscht von der, die er liebt, zu dem, den er verehrt. Mir kann man den Schaden nicht zur Last legen, der ihm angetan wird.
    Seine Mutter teilt die Kartoffeln aus, die sie so brutal zerstampft und die
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