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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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Schuld, doch war der Preis für meine Zwecke hoch genug? Jedenfalls sah ich Frau Helga im Stall Geld zählen. Ich sah den blonden Flaum auf ihren Armen. Einmal habe ich davon geträumt, sie zu küssen. Vor langer Zeit.
    Ich war am Bach, um mich zu waschen, nackt und balancierte auf rasiermesserscharfem Bruchschiefer, an dem man sich die Zehen schneiden kann. Als Sumper mich an die Schulter fasste, zuckte ich vor Entsetzen zusammen. Meine Genitalien schrumpelten wie Kutteln im Suppentopf. Er kam gepanzert mit seiner Lederschürze, einen Schnabel in der Hand, aber das wusste ich da noch nicht.
    Er sagte: »Sie werden für etwas weit Schöneres verantwortlich sein, als Sie es sich auch nur vorstellen können.«
    »Ich wollte bloß eine Ente.«
    »Sie wurden nicht geboren, um bloß eine Ente zu haben. Sie wurden geboren, um ein Wunder auf diese Welt zu bringen.«
    Und dann wandte er sich ab und ließ mich in meiner Nacktheit stehen.
    An jenem Abend schleuderte die Mutter Kartoffelbrei durch den Flur. »Sie haben kein Recht, meinen Sohn zu stehlen.« Es fiel noch Ähnliches mehr, alles höchst betrüblich, besonders, wenn man dabei das heilige Kind sah, wie es die Hände wrang, diese schlanken warzigen weißen Finger. Im Licht der Lampe hatte er ein langes Kinn, hohe Knie, und seine Finger verknäulten sich ineinander wie ein Nest voller Babyaale.
    »Ich bin nicht so weit gereist, um diesem Jungen weh zu tun«, sagte Sumper. »Er ist ein Genie.«
    »Sie dürfen ihm auch niemals weh tun«, sagte sie, doch wusste sie vermutlich, welch gefährliche Lage im Gasthof durch sie heraufbeschworen worden war, wo man wohl gesehen hatte, wie Jesus sich vor lauter Lachen auf dem Boden kugelte. »Er ist nur ein kleiner Junge.«
    »Er ist ein Genie«, wiederholte Sumper. »Hier«, sagte er, »lesen Sie das.« Und er holte aus seiner Schürzentasche jenen Elfenbeinschnabel, auf dessen Unterseite, wie ich jetzt sah, etwas in silbriger Schrift auf kohlschwarzem Holz geschrieben stand.
    »Ich kann nicht lesen.« Sie wich vor ihm zurück. »Das wissen Sie.«
    Also hielt er mir den Gegenstand hin.
    Diese grässlichen Augen waren auf mich gerichtet, warteten darauf, dass ich die Bedeutung verstand.
    Ich bin ein Trottel, dachte ich, ein völliger Schwachkopf.
    »Aber natürlich«, sagte ich. »Ganz genau.«

Catherine
    Um sieben Uhr setzte mich Annie Heller vor die Tür, obwohl ich die letzten Seiten noch nicht gelesen hatte. Ich ging die schmale Wendeltreppe hinab, die um diese Uhrzeit ganz golden leuchtete. Ein warmer Wind wirbelte draußen herumstreunende Flugblätter durch die Luft.
    Fünf Minuten vor Schließung erreichte ich den Annex, und dort, in dem, was wir den ›Ikea-Kasten‹ nannten, wartete der Schwanenschnabel auf mich mitten zwischen unzähligen Schrauben und Unterlegscheiben, meist Überschuss von unserem Zusammenbau. Warum ich ihm bislang keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet hatte, mag eine Frage für den Psychologen sein. Ich hatte ihm noch nicht einmal eine Katalognummer zugewiesen. Monsieur Arnauds Meisterwerk sah ebenso aus, wie ich es in Erinnerung hatte, schwarz wie die Nacht, gebettet auf einer Baumwollunterlage in einem kleinen Pappkarton, auf dessen Deckel das Wort SCHNABEL stand, geschrieben mit einem Marker.
    Anders als Henry es geschildert hatte, stand nichts auf dem Schnabel selbst. Ich fand das ziemlich, wenn nicht extrem verstörend, fast, als wäre ich von einem Liebhaber belogen worden. Dann begriff ich das Offensichtliche: Arnaud hatte die Worte in Silber eingelegt, das mittlerweile oxidiert war, folglich standen die Worte schwarz auf schwarz. Ich hätte mit dem Rätsel ans Fenster gehen oder eine Untersuchungsleuchte benutzen können, doch war Schließungszeit, und ich war aufgeregt und fürchtete, mit meinem Geheimnis erwischt zu werden. Also wickelte ich den Schnabel in Kleenextücher, steckte ihn in einen Umschlag und stürmte aus dem Gebäude, als käme ich zu spät zu irgendeinem großartigen, nur in meiner Phantasie existierenden Ereignis.
    Es war ein merkwürdiger Abend, viel zu warm; außerdem wehte ein starker, trockner Wind, der zu besagen schien, dass Buckinghamshire sich in eine Wüste verwandelt hatte. Wie auf dem Lowndes Square trieben auch in Olympia überall Papierfetzen durch die Luft; der
Evening Standard
wickelte sich mit einem hässlichen Klatschen um einen Laternenpfosten. AMERIKAS CHAOS IST NICHT UNSER CHAOS . Wie leicht dies selbst kopfüber zu lesen war.
    In einer Nebenstraße gab es
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