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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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auffüllte, »wissen Sie, ich finde den Gedanken, dass Rätsel gelöst werden müssen,
höchst
problematisch. Verstehen Sie, was ich meine? Jeder Kurator lernt irgendwann, dass es gerade um die Rätsel, die Geheimnisse geht.«
    »Bitte, spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
    »Nein, ich meine es ernst. Warum wollen wir stets die Vieldeutigkeit beseitigen?«
    Ich dachte, warum will man Silber stets halb zu Tode polieren?
    »Ohne Vieldeutigkeit bleibt nur Agatha Christie, so etwas wie ein ästhetischer Krimi, aber schauen Sie sich irgendeinen Rothko an. Man sieht und sieht und kommt dabei doch nie über die Unschlüssigkeiten und Vieldeutigkeiten der Farben und Formen, der Oberfläche hinaus. Das ist den ›analytischen Klarheiten‹ Ihres Josef Albers weit überlegen.«
    »Er ist nicht mein Albers.«
    »Er war Matthews Albers.«
    »Das war er, ja.«
    Wieder eine Pause.
    »Dies ist mein Projekt«, sagte ich. »Sie haben es mir gegeben.«
    »Das habe ich tatsächlich. Ich hoffe, ich habe mich nicht allzu sehr eingemischt.«
    »Ich habe alles verloren, Eric, wofür ich gelebt habe. Sie gaben mir dies hier. Falls es ein Geheimnis ist, kann ich damit leben, aber Sie haben es mir gegeben.«
    »Ja, meine Liebe, das habe ich.«
    »Und warum geben Sie’s dann ihr?« Ich hatte es nicht sagen wollen, es aber getan. Der Schwan gehörte mir. Henry gehörte mir.
    Eric gönnte sich einen Schluck. »Was meinen Sie damit?«, fragte er feuchtfröhlich.
    »Es ist meins.«
    »Was Sie nicht sagen«, erwiderte er. »Und was genau meinen Sie mit ›es‹?«
    »Das Lateinische.«
    »Sie wollen also die Übersetzung hören?«
    »Ganz genau.«
    »Sie wollen wissen, was es bedeutet?«
    »Ja.«
    »
Illud aspicis non vides.
Es heißt: Man kann nicht sehen, was man sehen kann.«
    »Ach, halten Sie den Mund«, rief ich.
    »Es heißt: Man kann nicht sehen, was man sehen kann.«
    »Nein«, sagte ich. »Heißt es nicht.«
    »Meine liebe Cat«, sagte er. »Sie dürfen mich jederzeit wieder anrufen.«
    Damit legte er auf.
    Schmerz, Neid, Wut füllten mich bis ins Mark, weil diese reiche, irre Assistentin mir alles stahl, selbst Angus, also den Träger desselben spiralförmigen Mechanismus, der einst die Oberlippe meines Geliebten formte, den heiter ironisch verzogenen Muskel im Schatten seiner allseits bekannten Nase.
    Man kann nicht sehen, was man sehen kann, sagte Sumper. Was für ein gequirlter Blödsinn.

2
    Als ich aufwachte, kam mir gar nicht der Gedanke, dass Regen solch einen Riesenlärm machen könnte, doch Regen war es, ein unvorstellbarer Schauer, der in Kaskaden vom Dach stürzte, von hinten beleuchtet wie die Victoriafälle, dunkel und blau.
    Ich hatte Eric gesagt, er solle den Mund halten.
    Irgendwas hämmerte gegen die Außenwand. War dies ein Wirbelsturm? Sollte ich im Bad Schutz suchen?
    Ich sah den wankenden Schatten einer Leiter, die an die Wand krachte, und dachte, sie werden die Scheibe zerbrechen, dabei habe ich nicht mal Pantoffeln, um meine Füße vor den Scherben zu schützen. Dann kam ein dicker weißer Mann in Shorts, der gegen das Gewicht des Wassers hinaufkroch, den Leib fest ans Fenster gepresst. Ich sah seinen Bauchnabel, sah das schwarze Haar auf seiner Haut, und es war, als bräche ein Geschöpf des Unbewussten durch die Membran eines Traums. Ich konnte trotz Regen Donner hören und saß reglos da, das Laken über die Brust hochgezogen.
    Das Wasser rauschte. Ich dachte, ich bin vollkommen allein an diesem höllischen Ort; von all den Menschen auf Erden war Eric Croft am freundlichsten zu mir, am nachsichtigsten; er hatte nachgegeben, selbst wenn er es nicht musste, hatte gegeben, ohne Dank zu erwarten.
    Halten Sie den Mund, hatte ich gesagt.
    Die Welt wird enden, wie alles enden muss. Ich glaube, die Leiter fiel vom Dach. Der Regen hielt an. Männer schrien. Alles, was ich hätte tun können, hätte lächerlich ausgesehen.
    Gelbe Warnlichter auf den Straßen. Und noch eine Leiter. Männer in hellblauem Regenzeug kletterten an meinem Fenster vorbei. Wer in London trägt blaues Regenzeug? Die Stigmata der Katastrophe waren mir unbekannt.
    Um zwei Uhr hockte ich allein am Fenster und schaute auf die leere, überflutete Straße. Am nächsten Morgen verließ ich den Pub, eine leichte Kleidertasche über der Schulter, unterm Arm meine Handtasche. Meine Garderobe war nicht mehr sauber, und wenn ich mich trotzdem für eine weiße Leinenbluse entschied, dann nur, weil ich wusste, war ich erst einmal bei der Arbeit, würde ich
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