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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht
Autoren: Ally Condie
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eine Stimme hinter mir, und ich zucke vor Schreck zusammen. Es ist der Mann vom Empfang. Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem weiteren Mitarbeiter. Er beobachtet mich und lächelt, fast ein wenig traurig. »Die anderen sind hinten und schließen zur Nacht. Wenn Sie etwas fragen möchten, müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«
    Ich werfe unserem Funktionär einen Blick zu. Er steht immer noch vor der Vitrine in der Nähe des Eingangs, scheinbar völlig vertieft in das, was immer dort ausgestellt wird. Ich schaue Xander an und versuche, ihm eine wortlose Nachricht zu übermitteln.
Bitte!
    Im ersten Moment befürchte ich, er habe mich nicht verstanden oder wolle mich nicht verstehen. Ich fühle, wie seine Hand die meine fester umschließt, sehe, wie sich sein Blick verhärtet, und dann nickt er. »Beeil dich«, mahnt er, lässt meine Hand los und geht hinüber zu dem Funktionär auf der anderen Seite des Raumes.
    Ich muss es versuchen, obwohl ich nicht glaube, dass dieser müde alte Mann irgendwelche Antworten weiß. Die Hoffnung, die in mir aufgekeimt ist, verwelkt wieder. »Ich möchte gerne mehr über die glorreiche Geschichte der Provinz Tana erfahren.«
    Eine Pause. Ein Herzschlag.
    Der Mann atmet tief durch und fängt an zu erzählen. »Die Provinz Tana ist berühmt für ihre malerischen Landschaften und ihre fruchtbaren Böden, die extensive Landwirtschaft ermöglichen«, beginnt er in sachlichem Ton.
    Er weiß nichts.
Das Herz wird mir schwer. Daheim in Oria, so hat mir Ky erzählt, waren Großvaters Gedichte wertvolle Tauschobjekte. Durch die Frage nach der Frühgeschichte einer Provinz könne man den Archivisten mitteilen, dass man etwas eintauschen wolle. Ich habe gehofft, hier wäre es genauso. Wie dumm von mir! Vielleicht gibt es in Tana überhaupt keine Archivisten, und wenn es sie gäbe, würden sie sich wahrscheinlich an angenehmeren Orten aufhalten und nicht in diesem traurigen kleinen Museum hocken und auf die Schließungszeit warten.
    Der Mann fährt fort. »Während der Prä-Gesellschaftszeit gab es manchmal Überflutungen in Tana, die jedoch schon seit Jahren unter Kontrolle sind. Wir gehören zu den produktivsten Landwirtschaftsgebieten innerhalb der Gesellschaft.«
    Ich blicke mich nicht zu Xander um. Auch nicht zu dem Funktionär. Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Karte vor mir. Ich habe das schon einmal versucht, und auch damals ist es mir nicht gelungen. Doch beim ersten Mal hat es daran gelegen, dass ich es nicht fertigbrachte, das Gedicht wegzugeben, das Ky und mir gemeinsam gehörte.
    Plötzlich fällt mir auf, dass der Mann aufgehört hat zu reden und mir genau in die Augen schaut. »Sonst noch etwas?«, fragt er.
    Ich sollte aufgeben. Sollte lächeln, mich Xander zuwenden und das Ganze vergessen. Sollte akzeptieren, dass der Mann nichts weiß, und weitergehen. Doch aus irgendeinem Grund denke ich plötzlich an eines dieser letzten roten Blätter an den Bäumen, das sich vor dem Himmel abzeichnet. Ich atme. Es fällt.
    »Ja«, sage ich leise.
    Großvater hat mir zwei Gedichte geschenkt. Ky und ich liebten das von Dylan Thomas, aber in diesem Moment kommen mir Worte aus dem anderen Gedicht in den Sinn. Ich kann mich nicht mehr ganz genau daran erinnern, aber eine Strophe ist mir plötzlich so deutlich im Gedächtnis, als sähe ich sie geschrieben vor mir. Vielleicht liegt es daran, dass der Mann die Überflutungen erwähnt hat:
    Hinaus aus unserem Quell von Zeit und Ort,
    Mag Flut mich weit hinweg geleiten,
    So hoffe ich, wenn ich die Barre überquert,
    Ihm, meinem Steuermann, ins Gesicht zu blicken.
    Während ich rezitiere, verwandelt sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Er wird clever, wach, lebendig. Ich muss mich richtig erinnert haben. »Das ist ein interessantes Gedicht«, bemerkt er. »Ich glaube, keines der Hundert.«
    »Nein«, bestätige ich. Meine Hände zittern, und ich wage zu hoffen. »Aber immer noch etwas wert.«
    »Ich fürchte nicht«, entgegnet er. »Es sei denn, Sie haben das Original.«
    »Nein«, sage ich. »Es wurde vernichtet.«
Ich habe es vernichtet.
Ich denke an den Augenblick auf der Bibliotheksbaustelle zurück und daran, wie das Papier hochflatterte, bevor es hinuntersank und verbrannte.
    »Das tut mir leid«, sagt er, und es klingt ehrlich gemeint. Dann fragt er mit kaum verhohlener Neugier: »Was haben Sie denn gehofft, dafür zu bekommen?«
    Ich zeige auf die Äußeren Provinzen. »Ich weiß, dass die Aberrationen
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