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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht
Autoren: Ally Condie
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Augen mit einer Hand ab, sah in die Ferne und spuckte dann auf das bereifte Salbeigebüsch. »Nein«, antwortete er. »Ky sagt, er wird schmelzen, bevor wir ihn erreichen. Außerdem müssen wir Gräber ausheben.«
    »Dauernd sollen wir graben«, murrte einer der Lockvögel. »Wir sollen uns wie Bauern verhalten. Das hat die Gesellschaft gesagt.« Er hatte recht. Man verlangt von uns, die Schaufeln und das Saatgut aus den Schuppen im Dorf zu nutzen, um Wintergetreide anzubauen, die Leichen dagegen einfach liegen zu lassen. Ich habe andere Lockvögel erzählen hören, dass das in den anderen Dörfern durchaus üblich ist. Sie überlassen die Leichen der Gesellschaft, dem Feind oder hungrigen Tieren.
    Aber Vick und ich bestatten die Gefallenen. Mit dem Jungen hat es angefangen, und niemand hat uns bisher daran gehindert.
    Vick lachte freudlos. In Abwesenheit von Funktionären oder Offizieren wurde er zu unserem inoffiziellen Führer, und manchmal vergessen die anderen Lockvögel, dass er in Wirklichkeit keinerlei von der Gesellschaft anerkannte Macht besitzt. Sie vergessen, dass auch er eine Aberration ist. »Ich zwinge euch zu nichts. Ky genauso wenig. Ihr wisst, wer das Sagen hat, und wenn ihr das Risiko eingehen wollt, dort hinaufzuklettern, werde ich euch nicht davon abhalten.«
    Die Sonne kletterte höher, die Lockvögel ebenfalls. Ich beobachtete sie eine Weile lang. Durch ihre schwarze Zivilkleidung glichen sie aus der Ferne einem Schwarm Ameisen, der einen Hügel hinaufkrabbelt. Dann stand ich auf und machte mich wieder an die Arbeit. Ich hob auf dem Friedhof Gruben für diejenigen aus, die bei dem Angriff letzte Nacht umgekommen waren.
    Vick und einige andere arbeiteten Seite an Seite mit mir. Sieben Löcher mussten wir graben. Nicht besonders viel in Anbetracht der Heftigkeit des Beschusses und der Tatsache, dass wir hier fast hundert Mann waren.
    Ich drehte den Kletterern den Rücken zu, damit ich nicht mit ansehen musste, dass der Schnee schon geschmolzen war, bevor sie oben auf dem Plateau ankamen. Dort hinaufzugehen war reine Zeitverschwendung.
    Es ist auch Zeitverschwendung, über die Menschen nachzudenken, die aus meinem Leben verschwunden sind. Und so, wie die Dinge hier draußen liegen, habe ich nicht mehr besonders viel Zeit zu vergeuden.
    Aber ich kann meine Gedanken nicht aufhalten.
    An meinem ersten Abend im Ahornviertel blickte ich aus dem Fenster in meinem neuen Zimmer, und nichts kam mir vertraut oder heimisch vor. Daher wandte ich mich ab. Doch dann kam Aida ins Zimmer. Sie sah meiner Mutter so ähnlich, dass sie mir das Gefühl nahm, zu ersticken.
    Sie hielt mir den Kompass hin. »Unsere Eltern hatten nur ein Artefakt, aber zwei Töchter. Deine Mutter und ich kamen überein, ihn abwechselnd zu nehmen, doch dann ist sie fortgegangen.« Sie öffnete meine Hand und legte den Kompass hinein. »Das war unser gemeinsames Artefakt. Und du bist unser gemeinsamer Sohn. Es ist für dich.«
    »Ich darf das nicht annehmen«, erwiderte ich. »Ich bin eine Aberration. Wir dürfen so etwas nicht besitzen.«
    »Trotzdem«, beharrte Aida. »Er gehört dir.«
    Dann gab ich ihn Cassia, und sie schenkte mir die grüne Seide. Ich wusste, dass sie sie mir irgendwann wegnehmen würden. Ich wusste, dass ich sie niemals würde behalten können. Daher band ich sie auf unserem Weg den Hügel hinunter an einen Baum. Rasch, damit Cassia es nicht bemerkte.
    Ich mag den Gedanken daran, wie das Stück Stoff bei Wind und Wetter dort oben auf dem Hügel flattert.
    Denn am Ende hat man nicht immer Einfluss darauf, was man behalten kann. Nur darauf, wie man es loslassen kann.
    Cassia.
    An sie habe ich gedacht, als ich den Schnee zum ersten Mal sah. Ich dachte:
Wir könnten dort hinaufklettern. Auch wenn er ganz geschmolzen wäre. Wir könnten uns hinsetzen und Wörter in den feuchten Sand schreiben. Das könnten wir tun, wenn du nicht fort wärst.
    Doch dann dachte ich:
Aber nicht du bist fort. Sondern ich musste dich verlassen.
     
    Ein Stiefel taucht am Rande des Grabes auf. Anhand der Kerben in der Sohle weiß ich, wem er gehört. Mit den Kerben markieren manche von uns die Zeit, die sie bereits überlebt haben. Niemand sonst hat so viele Kerben, so viele Tage, die bereits abgehakt sind. »Du bist nicht tot«, stellt Vick fest.
    »Nein«, sage ich, stütze mich ab und richte mich auf. Ich spucke etwas Erde aus und greife nach der Schaufel.
    Vick gräbt neben mir. Keiner von uns redet über diejenigen, die wir heute nicht
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