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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le
Autoren: Krieg im Spiegel (Smiley Bd 4)
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mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. »Er ist
ganz in Ordnung«, sagte er. »Fred kann man nicht so leicht umbringen. Er ist
ein alter Hase.« Offenbar hatte ihn das Tageslicht wieder munter gemacht. Er
sah auf seine Uhr. »Was, zum Teufel, ist mit diesem Kurier passiert, frage ich
mich.«
    Leiser
blinzelte zu den Soldaten hinüber, als komme er aus einer dunklen Höhle ans
Tageslicht. Sie füllten die Cafes, starrten in die Schaufenster, glotzten den
Mädchen nach. Auf dem Platz waren Lastwagen abgestellt. Ihre Reifen waren vom
rötlichen Schlamm verschmiert und über ihren Motorhauben lag ein dünner
Überzug aus Schnee. Er zählte neun Wagen. Einige hatten schwere Anhängerkupplungen
an ihrer Rückfront. Andere trugen auf den zerbeulten Türen des Fahrerhauses
Aufschriften in kyrillischen Buchstaben oder das aufgemalte Wappen irgendeiner
Einheit und eine Nummer. Er prägte sich die Einzelheiten der Uniformen ein,
die die Fahrer trugen, die Farbe ihrer Schulterstücke. Es wurde ihm klar, daß
sie verschiedenen Einheiten angehörten. Auf dem Rückweg zur Hauptstraße trat
er in ein Cafe und bestellte etwas zu trinken. An einem Tisch saß ein halbes
Dutzend mißvergnügter Soldaten, die sich drei Flaschen Bier teilten. Leiser
grinste zu ihnen hinüber, es war wie die Aufforderung einer müden Hure. Er hob
seine Faust zum sowjetischen Gruß, und sie starrten zu ihm herüber, als sei er
verrückt. Er ließ sein Glas stehen und ging zum Platz zurück. Um die Lastwagen
hatte sich eine Gruppe von Kindern versammelt, und die Fahrer sagten ihnen
immer wieder, sie sollten verschwinden.
    Er machte
eine Runde durch die Stadt und ging in ein Dutzend Cafes, aber niemand wollte
mit ihm sprechen, weil er ein Fremder war. Überall saßen oder standen die
Soldaten in Gruppen herum, gekränkt und verwirrt, als habe man sie ohne Grund
hochgescheucht.
    Er aß
irgendwo eine Wurst und trank einen Steinhäger dazu, dann ging er zum Bahnhof,
um zu sehen, ob dort irgend etwas los war. Derselbe Beamte war wieder dort und
beobachtete ihn durch sein kleines Fensterchen - diesmal ohne Mißtrauen;
Leiser spürte, aber es war ihm gleichgültig, daß der Mann die Polizei
verständigt hatte.
    Auf dem
Weg zurück ins Stadtzentrum kam er an einem Kino vorbei. Ein paar Mädchen
hatten sich vor den ausgehängten Bildern versammelt; er stellte sich zu ihnen
und tat, als betrachte er die Fotos. Dann hörte er den Lärm. Es war ein
metallisches, unregelmäßiges Dröhnen, das die Luft mit dem Heulen und Rasseln
von Motoren, mit Stahl und Krieg erfüllte. Er zog sich in die Deckung des
Kinoeinganges zurück, sah die Mädchen sich umdrehen und die Kartenverkäuferin
in ihrem Verschlag aufstehen. Ein alter Mann bekreuzigte sich. Er hatte nur
noch ein Auge und trug den Hut schief auf dem Kopf. Die Panzer rollten durch
die Stadt; auf ihnen saßen Soldaten mit ihren Karabinern in den Händen. Die
Geschützrohre waren zu lang und weiß von Schnee überzuckert. Er ließ sie vorbei
und ging dann schnell über den Platz. Sie lächelte, als er hereinkam. Er war
außer Atem. »Was machen sie?« fragte das Mädchen. Dann bemerkte sie seinen
Gesichtsausdruck. »Du hast Angst«, flüsterte sie, aber er schüttelte den Kopf.
»Du hast Angst«, wiederholte sie. »Ich habe den Jungen umgebracht«, sagte er.
Er ging zum Waschbecken und studierte sein Gesicht mit der großen Sorgfalt
eines Mannes, der verurteilt ist. Sie trat hinter ihn, legte die Arme um seinen
Brustkasten und preßte sich gegen seinen Rücken. Er drehte sich um und griff
wild nach ihr, hielt sie ungeschickt und drängte sie durch das Zimmer. Sie
wehrte sich mit der Wut eines Kindes, mit irgendeinem Namen auf den Lippen und
dem Haß gegen irgend jemand im Herzen, sie verfluchte und nahm ihn, die Welt
brannte, und sie allein lebten. Sie weinten und lachten zusammen im Fallen,
ungeschickt in der Liebe und plump im Triumph, in dem sie nicht einander,
sondern jeder nur sich selbst erkannten, und für einen Augenblick die ungelebt
gebliebenen Teile ihrer Leben nachholten. In diesem Augenblick dachten sie
nicht an die große, verfluchte Dunkelheit. Johnson beugte sich aus dem Fenster
und zog sanft an der Antenne, um sich zu vergewissern, ob sie noch fest war.
Dann begann er wie ein Rennfahrer vor dem Start noch einmal seine Apparaturen zu
überprüfen, indem er die Kabelverbindungen berührte und unnötig an den Knöpfen
herumdrehte. Leclerc sah ihm voll Bewunderung zu.
    »Johnson,
das haben Sie das letzte
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