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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor
Autoren: Andreas Gruber
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ERSTES KAPITEL
     
     
    D ieser verdammte Sturm setzte mir jetzt schon zu, obwohl wir uns noch weit von der Insel entfernt befanden. Ich stand an der Reling, nur mit einer Ölhose, einem dicken Pullover und festem Schuhwerk bekleidet, und versuchte der Gischt zu trotzen, die am Bug der Skagerrak emporschoß. Vor mir lag das Nordmeer, das wir in Richtung Spitzbergen durchpflügten, seit wir am Abend zuvor in Tromsø ausgelaufen waren. Nach jeder Welle stürzte der zweimastige Schoner dermaßen in ein Tal, daß es mir den Magen hob. Wie winzige Nadeln stach die Kälte auf den Wangen. Obwohl die Zigarre aus dem Privatvorrat des Kapitäns in der feuchten Brise längst erloschen war, kaute ich auf dem Tabak, der nach nichts mehr schmeckte, und spuckte hie und da ins Wasser. Unter Deck wäre es behaglicher gewesen – keine Frage –, aber ich hielt mit klammen Fingern in der Kälte aus. Ich wollte, nein, vielmehr mußte ich, einen Vorgeschmack darauf bekommen, was uns bevorstand.
    Mit dem Klappmesser ritzte ich das heutige Datum in die Holzbohle der Reling: 8. November 1911.
    Darunter meinen Namen: Alexander Berger. Auf den Doktortitel verzichtete ich, der erleichterte mir das Leben hier draußen nicht. Für die nächsten drei Monate würde ich weder meine Eltern, noch meine Wiener Wohnung, die Arztpraxis meines Vaters oder die Patienten sehen – auch nicht Kathi Bloom, die junge Bühnenschauspielerin, die ich kurz vor unserer Abreise am Wiener Burgtheater kennengelernt hatte. Vor allem ihretwegen war ich schweren Herzens aufgebrochen. Aber ich hatte mich damit getröstet, daß die vor uns liegende Reise aufregender war als alles andere, was je ein Schriftsteller und angehender Arzt erlebt hatte. Mit siebenundzwanzig Jahren war es höchste Zeit, meine Bestimmung zu finden, wollte ich nicht den Rest meines Lebens Gedichte schreiben oder in der Praxis meines Vaters ordinieren. Und diese Bestimmung hieß – an den Rand der Arktis zu reisen.
    Seit ich mich erinnern konnte, hatte mir mein Großvater Geschichten über die Nordpolfahrten der friesischen Seeleute erzählt, über den Engländer Constantine John Phipps, der vor knapp hundertfünfzig Jahren versucht hatte, den Packeisgürtel zu durchstoßen, oder die Reisen des Kapitän Parry, der vor etwa achtzig Jahren von Spitzbergen aus versucht hatte, mit Rentierschlitten den Nordpol zu erreichen. Wenn das Brennholz im Kamin knisterte, der erste Schnee auf dem Fenstersims liegen blieb und der Kaffee auf dem Herd duftete, saß ich in Großvaters Nähe und lauschte seinen Geschichten über Abenteuer, die so alt waren wie die Menschheit selbst. Seitdem faszinierte mich die Arktis wie kein zweiter Ort auf dieser Welt, und ich wollte verdammt sein, wenn wir nicht unseren Beitrag zur Erforschung des Ewigen Eises leisten konnten.
    Wir, das waren zunächst Jan Hansen, ein breitschultriger, hochgewachsener Norddeutscher, den ich während eines Vortrags über Island im Gebäude des Wiener Zollhafens kennengelernt hatte. Er stand am Seiteneingang der Aula, wo er sich eine Zigarre ansteckte, und falls es tatsächlich so etwas wie einen überspringenden Funken zwischen Gleichgesinnten gab, dann war uns das passiert. Hansen hatte jahrelang als Hafenarbeiter in Malmö, Rostock und Riga gedient, auf russischen Walfängern angeheuert und war vor zwei Jahren als Matrose bei Shackletons gescheiterter Nimrod-Expedition dabei gewesen. Er kannte den Nord- und Südpol wie kein anderer und war dem Tod bereits näher gewesen als viele, die bei uns anheuern wollten. Für unser Vorhaben hätte ich mir keinen kundigeren Begleiter als diesen erfahrenen Abenteurer und gelernten Kartographen wünschen können. Mit ihm hatte ich die Arktis-Expedition geplant, und gemeinsam mit den entschlossensten Männern, die wir in Tromsø finden konnten, die nötigen Vorbereitungen getroffen. Christianson, der stattliche, strohblonde Schwede mit den weichen Gesichtszügen und zugleich der jüngste unter uns, hatte als einziger Frau und Kinder, die in Stockholm auf seine Rückkehr warteten. Zwar hatte Hansen von ihm abgeraten, doch eben wegen dieser Tatsache wurde Christianson für mich zur ersten Wahl, da ich mir durch sein Verantwortungsbewußtsein ein familiäres Klima unter den Teilnehmern erhoffte. Der Schwede zeichnete für die Ausrüstung unserer fünfköpfigen Gruppe verantwortlich. Die anderen beiden Männer waren Norweger. Der alte, ruppige Vanger fungierte als Proviantmeister und Koch, und der hitzköpfige
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