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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor
Autoren: Andreas Gruber
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was ihm in diesen Breitengraden besonders wichtig schien. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir bis auf zwei Gewehre keine zusätzlichen Waffen mitgenommen, doch gegen Harpuns Starrköpfigkeit hatte ich mich nicht durchsetzen können. Der unbeugsame Norweger war nicht nur Huskyführer sondern auch Jäger, und mit diesen Menschen ließ sich nicht vernünftig diskutieren. Deswegen hatte ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei Harpun gehabt. Ich bildete mir nicht ein, mehr Instinkt oder Feingefühl als andere zu besitzen oder ein großer Menschenkenner zu sein, obwohl meine Mutter immer behauptete, ich habe die Fähigkeit, andere Leute einzuschätzen, mit der Muttermilch aufgenommen. Doch bei Harpun war ich mir sicher, daß er uns noch Ärger bereiten würde. Trotz seiner augenscheinlichen Stärke schien er unberechenbar zu sein, wie ein Pulverfaß, das zu nah am Feuer stand. Ich sah es an seinem Blick. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, trank er Alkohol aus einer Flasche, die er unter dem Mantel verbarg. Er aß zu wenig und wirkte jetzt schon ausgemergelt, obwohl wir erst am Beginn unserer Reise standen.
    Nach einer Weile stemmte ich mich vom Faß und stapfte zur Küste, wo ich nach Robben oder Schiffen Ausschau hielt. Ich mußte auf andere Gedanken kommen. Als ich einige hundert Meter vom Lager entfernt auf einem Stein saß, den Wellen zusah und einige Gedichte in mein Tagebuch schrieb, fielen die ersten Schüsse. Ich wußte, es konnte nur Harpun sein. Dieser verdammte Norweger! Eilig packte ich mein Buch ein und lief zu den Zelten. Von weitem drang das aufgebrachte Bellen der Hunde über das Eis. Als ich mich näherte, sah ich das Lager: Es war mit Blut besudelt. Zum Glück war keiner der Männer verletzt, dennoch ließ mich der Anblick würgen. Harpun hatte mit dem Revolver eine Sattelrobbe erlegt, die sich zu nahe an das Lager herangewagt hatte.
    »Was sollte das? Seid ihr verrückt?« Zornig stellte ich mich vor die Männer.
    »Ich habe Vanger gewarnt.« Entschuldigend hob Harpun die Hand. In der anderen hielt er eine Axt. Sein Rentiermantel war blutbesprenkelt. »Der Duft des brutzelnden Specks hat das Vieh angelockt.« Erneut schwang er die Axt über den Kopf, um das Tier auszuweiden.
    Die gewaltige Schlächterei wirkte ekelerregend. Wie benommen starrte ich auf die rot gefärbte Eisfläche, ein Anblick, der mir nach drei Tagen auf dem Eis so surreal erschien, daß ich es nicht glauben konnte.
    Hansen legte mir die Hand auf die Schulter, um mich beiseite zu nehmen. »Es ist notwendig«, murrte er. »Das Fleisch dient als Proviant, die Abfälle gehören den Hunden.«
    Mir drehte sich der Magen um, sobald ich daran dachte, wie sich die Huskies an den Innereien weideten. Ich atmete die kalte Seeluft ein. Zu diesem Zeitpunkt hörte ich zum ersten Mal das Kreischen der Schneeeule. Gleichzeitig sahen wir nach oben. Über unseren Köpfen flog ein besonders großes, prächtiges Exemplar – ein Weibchen, dessen Körperlänge bestimmt siebzig Zentimeter betrug, mit einer Flügelspannweite von über anderthalb Metern. Das Tier kreiste über der Blutlache und stieß seine Schreie aus, während es uns beobachtete.
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Harpun mit dem Gewehr anlegte.
    »Runter!« brüllte ich.
    Verdutzt senkte Harpun den Lauf der Büchse.
    »Für heute reicht es!«
    Als ahne die Schneeeule, daß sie knapp dem Tod entronnen war, schwang sie sich empor, um in den Wolken zu verschwinden. Der Anblick des Tieres ließ mir keine Ruhe. Am Abend kramte ich im Zelt Jacobsens Buch über die Fauna Grönlands aus meinem Rucksack. Tatsächlich fand ich darin etwas über die Schneeeule. Der Naturwissenschaftler Jacobsen nannte sie einen sogenannten Überlebenswanderer, da sie sich dem jeweiligen Nahrungsangebot anpaßte. Unter anderem zählten Lemminge zu ihrer Hauptbeute. Demnach mußten sich jene Nagetiere in unserer Nähe befinden. Als ich mich Stunden später ohne Abendessen im Schlafsack verkroch, hörte ich, wie die Männer noch eine Runde durchs Lager gingen, um hie und da etwas an den Schlitten zu ordnen. Unwillkürlich dachte ich an Wien – und an Kathi Bloom. Was würde sie zur Zeit wohl machen? Möglicherweise dachte sie gerade an mich, an ihren verwegenen Abenteurer, wie sie mich kurz vor meiner Abreise genannt hatte. Und was war ich in Wahrheit doch für ein zimperlicher Schwächling, der sich beim Anblick einer toten Robbe beinahe übergeben mußte. Ab morgen würde ich versuchen, mich den rauhen Sitten
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