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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor
Autoren: Andreas Gruber
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Harpun war Jäger und zugleich der Hundeführer unseres Schlittengespanns. Eigentlich hieß er nicht Harpun, doch alle sprachen ihn mit diesem Spitznamen an – wohl deshalb, weil er sich selbst so nannte.
    Hansen und ich hatten uns lange den Kopf über diese Reise zerbrochen. Unser Plan sah vor, daß wir täglich zwanzig Kilometer auf dem Festland zurücklegen sollten. In diesem Tempo konnten wir die Hauptinsel Spitzbergens in knapp drei Monaten umrunden, was einem Marsch von 1.700 Kilometern entsprach. Dabei wollten wir unsere Berechnungen auf Nordenskiölds Aufzeichnungen aus dem Jahr 1873 sowie eine grobe Skizze Fridtjof Nansens aus dem Jahr 1896 stützen.
    Natürlich wußten wir, Anfang November war reichlich spät, um eine Expedition ins Eis zu führen, doch wagten wir es trotzdem. Denn die Zeit drängte. Scott und Amundsen lieferten sich ein Duell auf dem Südpol, und da die Antarktis keinen Platz für eine dritte Mannschaft bot, lautete unser erklärtes Ziel, nach Norden auszuweichen, um dort nach Ruhm und Ehre zu suchen. Spitzbergen war ein einsamer, weißer Fleck auf der Landkarte, der nur darauf wartete, erkundet zu werden. Wir wollten die Küstenstreifen der Insel kartographieren, was bisher niemand geschafft hatte. Falls es uns gelang, mit Hansens kartographischem Wissen eine brauchbare Landkarte von der Insel anzufertigen, konnten wir sie dem Wiener Verlag Borenich & Sauter verkaufen, der diese Expedition zum Großteil finanzierte.
    Schon vor Monaten hatten wir unseren Traum beinahe aufgegeben, denn dieser Tage waren öffentliche Gelder für derartige Unternehmen heiß umkämpft. Aber mit Hansens enthusiastischem Auftreten und seiner Überzeugungskraft, daß die Reise ein Erfolg werden müsse, hatten wir die beiden Verleger zu einem höheren Vorschuß als üblich überreden können. Der Rest stammte aus meinem Privatvermögen, das ich zur Gänze in die Vorbereitung dieses Projekts steckte. Damit kauften wir die besten Schlitten und heuerten Harpun mit seinen achtzehn Schlittenhunden an. Während unserer Fahrt durch das nördliche Gewässer wurden die Tiere von Harpun ständig in Bewegung gehalten, aber schon bald würden sie die Schlitten übers Eis ziehen.
    Wieder stürzte das Schiff in ein Wellental, so daß es mir den Magen hob. Die Gischt spritzte vom Bug empor. Dahinter lag die eisige, mondlose Nacht. Als der Wind auffrischte, zog ich mir die Öljacke über. Mit jedem Meter, den sich das Schiff durch die Wellen pflügte, schlug mein Herz schneller. Bald würden wir die Küste Spitzbergens erreicht haben, morgen – allerspätestens übermorgen.
     
    *
     
    Während die Männer am nächsten Abend über das Deck stiefelten, um ein zusätzliches Segel zu setzen, saß ich in meiner Kabine und schrieb einen weiteren Brief an Kathi Bloom nach Wien. Nach jedem Absatz betrachtete ich die kleine Photographie, als säße sie mir gegenüber, mit ihren großen, mandelbraunen Augen, dem strahlenden Lächeln und den hochgesteckten Haaren. Auch wenn ich es ihr tausendmal schrieb, sie hatte keine Ahnung, wie sehr sie mir fehlte. Was hätte ich darum gegeben, könnte ich – wie noch vor wenigen Wochen – in ihrer Nähe sein, auf dem Sofa vor dem Kamin. Mein Blick verlor sich jenseits des Bullauges, im vom Sturm gepeitschten Grau des Meeres. Über den Wellen tanzte ein Kerzenschein, daneben das Spiegelbild eines jungen Mannes mit traurigen Augen und dünnem, schwarzem Haar, zu einem Seitenscheitel gekämmt. Obwohl ich mir einen Bart wachsen ließ, um die feinen Gesichtszüge vor den anderen Männern zu kaschieren, wirkte ich nicht wie die restlichen Expeditionsteilnehmer, sondern immer noch wie ein Wiener Arzt, der in der Praxis seines Vaters arbeitete – zu jung und zu unerfahren für diesen Breitengrad. Wieder kamen mir Zweifel, ob ich der Aufgabe gewachsen sein würde?
    Ich riß mich von dem Anblick los, der mich von Mal zu Mal mehr verunsicherte. Genug phantasiert! Ich setzte meine Unterschrift aufs Papier – geschwungen, mit einigen Schnörkeln – und verschloß den Brief in einem Kuvert, das ich zu den anderen in die Holztruhe legte.
    Wieder hörte ich das Trampeln der Männer an Deck. Die Rufe der Mannschaft klangen hart und knapp. Die Besatzung der Skagerrak bestand aus einer Meute rauher Männer, die ich nur schwer einschätzen konnte. Da war zunächst Kapitän Anderson, ein alter Seebär, aber tief religiös, der mehr Jahre auf dem Meer verbracht hatte als an Land, sein Steuermann, der
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