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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor
Autoren: Andreas Gruber
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wurde unerträglich. Trotz Brille reflektierte der Schnee das Licht so sehr, daß mir die Augen tränten. Immer wieder machten wir Rast, damit Hansen unsere Route auf einer Karte festhalten konnte, die sich mit jedem Federstrich weiter entwickelte. Nach jeweils fünf Kilometern half ich ihm beim Messen mit Kompaß, Sextant und Winkelmeßgerät. Während unserer letzten Etappe stellte Harpun eine Temperatur von minus achtundzwanzig Grad fest. Trotz der Kälte und der bedrückten Stimmung schafften wir an diesem Tag gute neunundzwanzig Kilometer, wodurch wir unserem Plan weit voraus lagen.
     
    *
     
    Am nächsten Morgen hörte ich Harpun als ersten das Zelt verlassen. Draußen knirschten seine Schuhe im Schnee. Allein bei diesem Geräusch stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich mußte mich erst an dieses Leben gewöhnen. Von der warmen Stube und der Arztpraxis meines Vaters zur schaukelnden, engen Kabine an Bord der Skagerrak war es ein Schritt gewesen – vom Schiff in diese Eiswüste der nächste.
    Trotz der Kälte gelang es mir, auf dem Primusherd eine Kanne Kaffee zu kochen. Währenddessen nahm der Hundeführer den Tieren die Decken ab, legte ihnen das Geschirr an und füllte die Futterbeutel für die nächste Rast. Nach dem Frühstück luden wir Zelte und Lagereinrichtung auf die Schlitten. Um neun Uhr ging es weiter.
    Ich kann nicht behaupten, daß uns an diesem Tag das Glück hold war. Wir fanden nicht wie erwartet ebene Flächen vor, sondern Gräben, Barrieren und Eisblöcke, die uns den Marsch erschwerten. Ich hatte mir alles viel leichter vorgestellt. Zudem brachte der Wind abwechselnd Schnee und leichten Hagel, so daß wir ein Wechselbad der Witterungen durchfuhren. Gegen Nachmittag verschlechterte sich das Wetter erheblich – Harpun maß minus einunddreißig Grad. Obwohl ich, dick eingemummt auf dem Schlitten stehend, nicht zu sehr darunter litt, so kamen die Hunde nur langsam voran. Trotzdem brachte ich es nicht übers Herz, sie zu größerer Schnelligkeit anzutreiben. Am Nachmittag brachen wir die Fahrt nach einundzwanzig Kilometern ab.
    Nachdem ich unseren Schlitten abgeladen hatte, saß ich erschöpft auf einem Salzfaß und beobachtete Hansen beim Aufbau des Zeltes. Erst zwei Tage unterwegs, und ich spürte mit jedem einzelnen Knochen, daß ich trotz monatelanger Vorbereitungen der schwächste der Gruppe war. Wie dankbar konnte ich Hansen sein, der unermüdlich arbeitete und sogar meinen Anteil übernahm. Zudem hatte ich noch nie einen Mann gesehen, der so unempfindlich gegen die Kälte war. Trotz des Sturms trug der große, hartgesottene Walfänger nur eine Wollmütze als Kopfbedeckung. Eiszapfen hingen von seinen Augenbrauen und dem gelben Backenbart. Seit dem Aufbruch von heute morgen wartete ich darauf, daß seine Ohren weiß wurden und abfielen, doch sie blieben strahlend rot, ebenso wie sein von Sommersprossen übersätes Gesicht, das in der Abenddämmerung wie ein Ofen leuchtete. Der Mann war ein Phänomen. Seit unserer ersten Begegnung wußte ich, daß ich viel von ihm lernen konnte, nicht nur, was das Führen einer Expedition anbelangte, sondern auch was Härte, Disziplin und Ausdauer betrafen – jene Eigenschaften, die mir fehlten und die ich mir aneignen wollte. Dabei stammte Jan Hansen aus reichem, vornehmem Haus, was niemand, der ihn kannte, für möglich gehalten hätte. Die Eltern des Walfängers waren norddeutsche Industrielle, und in Berlin lebte sein jüngerer Bruder, über den er aber nur selten redete. Ich hatte von Carl Friedrich von Hansen gehört und wußte, daß er eine erfolgreiche Firma leitete. Jan Hansen hätte jederzeit als Lagerarbeiter im Unternehmen seines Bruders beginnen können, doch wollte er gern auf diese Karriere verzichten, wie er ebenso den adeligen Namenszusatz ablehnte. Statt dessen führte er ein Leben als Abenteurer, dem es gefiel, wenn man die förmliche Anrede von Hansen unterließ und ihn den Walfänger von Rostock nannte.
    Der alte Vanger zog eine Kiste vom Schlitten. »Ich bereite uns eine Mahlzeit«, entschied er in bruchstückhaftem Deutsch.
    »Mach schnell, das ist kein guter Platz, um zu rasten.« Harpun reckte die Nase in den Wind. Seine Hand ruhte auf einem Beutel aus Robbenhaut, den er stets an seinem Gürtel trug. Ich kannte Harpun gut genug, um zu wissen, was er darin aufbewahrte: einen Revolver. Oft genug stellte der Hundeführer den Beutel stolz zur Schau, und mehrmals hatte er bereits darauf hingewiesen, daß er absolut wasserdicht war,
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