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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor
Autoren: Andreas Gruber
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der Männer anzupassen. Um das durchzustehen, was ich mir vorgenommen hatte, mußte ich so werden wie sie.
     
    *
     
    Gegen fünf Uhr früh erwachte ich durch den Geruch einer stark gewürzten Suppe. Sogleich begann mein Magen lautstark zu knurren. In diesem Moment hätte ich einen Bären verschlingen können. Im Zelt dampfte es, da Vanger die Reste des Robbenfleisches verkochte.
    »Iß das! Sieh zu, daß du bei Kräften bleibst.« Hansen reichte mir eine Schüssel.
    Der Hunger ließ mich vieles vergessen. Hastig schlürfte ich aus dem Blechnapf. »Wie ist das Wetter?« fragte ich anschließend.
    »Hat sich verschlechtert.« Hansen ging nach draußen.
    Unmittelbar nach dem Essen brachen wir auf. Mein Schlitten war mit Robbenfleisch schwer beladen. Trotzdem legten sich die Hunde kraftstrotzend ins Geschirr, da Harpun sie reichlich gemästet hatte. Zusätzlich feuerte ich die Tiere an. Doch je weiter wir kamen, desto mehr verschlimmerte sich das Wetter. An jenem Tag erlebte ich den gewaltigsten Blizzard der bisherigen Reise. Der vernichtende Sturm heulte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit über die Eisfläche. Ich mußte mir die Mütze tief ins Gesicht ziehen und das Kinn gegen die Brust pressen, damit mir das Eis nicht die Wangen zerschnitt. Obwohl ich die Augen zusammenkniff, in der Hoffnung, daß die Huskies selbständig Samsons Spur folgen würden, drang das grelle Licht durch die Brille unter meine Lider. Erst vier Tag auf dem Eis, und ich drohte schneeblind zu werden.
    Die Fahrt schüttelte mich durch. Mit schmerzenden Muskeln klammerte ich mich an den Haltegriff des Schlittens. Auch dieser Tag würde vorübergehen. Ich sehnte mich nach einer heißen Tasse Tee und einer warmen Stube mit Kaminfeuer. Vieles hatte ich mir anders vorgestellt, zwar abenteuerlich, aber trotzdem mit einer Spur von Romantik, die in Nansens Berichten immer wieder erwähnt wurde. Doch von der Romantik des Eises waren wir weit entfernt. Noch dazu hatten mich sowohl mein Vater als auch alle Ärztekollegen vor dieser Reise gewarnt, mich sogar einen Hitzkopf genannt. Doch mit oder ohne Blizzards – es gab kein Zurück.
    Selbst als die Temperatur auf minus zweiunddreißig Grad fiel, entschlossen wir uns, weiterzumarschieren. Obwohl Harpun, der den ersten Schlitten fuhr, seine Hunde unermüdlich mit seinen Kommandos antrieb, legten wir auch an diesem Tag nur knapp zwanzig Kilometer zurück. In jenem Tempo konnten wir unmöglich weiter machen, ohne bald völlig erschöpft und ausgezehrt zusammenzubrechen. Auch wenn es verrückt klang, aber der Blick in Vangers, Harpuns und Christiansons ausgelaugte Gesichter gab mir Mut, Zuversicht und vor allem die Bestätigung, daß es nicht nur mir so erging. Im großen Fünfmannzelt, dem einzigen behaglichen Ort in dieser unendlichen Eiswüste, beratschlagten wir die Situation. Während der Primuskocher sprühte, führten wir zum ersten Mal ein ausführliches Gespräch in einer Mischung aus Deutsch, Schwedisch und Norwegisch. Dabei kam jedoch nur heraus, daß wir die Hoffnung auf baldige Wetterbesserung nicht aufgeben wollten.
    »Wir müssen weitermachen!« Hansens Schlußwort sagte alles – mehr gab es nicht zu besprechen.
    Als Harpun vor dem Abendessen seine Strümpfe auszog, kam ein großer, talgähnlicher Fleischballen zum Vorschein. »Meine Ferse!« rief er entsetzt.
    »Sieht nicht gut aus«, murrte Vanger. »Erfroren.«
    Wegen des Medizinstudiums und der Arbeit in der Praxis meines Vaters war mir dieser Anblick nicht unbekannt. Doch es selbst zu erleben, das war etwas anderes. Dazu kamen mir noch die Erzählungen meines Großvaters in den Sinn – schauderhafte Geschichten über Männer, die ihre Beine im Eis verloren hatten. Ich kniete mich vor Harpun nieder und knetete so lange seine Ferse, bis er meinte, wieder etwas zu spüren. Doch wie lange würde dieses Gefühl anhalten? Von einer schnellen Heilung konnte keine Rede sein – nicht bei diesen Erfrierungen. Nachdem ich aus meinen Kleidern geschlüpft war, merkte ich, daß ich nicht besser aussah. Wie Hansen und Harpun hatte auch ich Blasen an den Füßen, aufgesprungene Wangen und Lippen, sowie Schnittwunden und Abschürfungen von der Schlittenfahrt. Völlig grundlos begann der alte Vanger plötzlich zu schmunzeln, und mit einem Mal mußten wir alle lachen. Obwohl es sich dabei um eine Art Galgenhumor handelte, schmiedete uns der Anblick der zerschundenen Körper zusammen. Wir saßen im selben Boot, und schlagartig hatte ich das Gefühl,
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