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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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einen neuen Martin verwandelt hätte. Drei lange Datennadeln leuchteten grellweiß im Kernkissen des Decks: das Design, die Programmierung und die Implementierungsdateien der Version 3.0.
    »Ich war auch mal so wie du«, sagte Ambrose.
    »Wir teilen uns das Ausgangsmaterial.«
    Ambrose versuchte, die Dateien zu extrahieren, und spürte, dass Martins Verschlüsselung sich ihm entgegenstemmte wie eine Membran aus glühend heißem Plastahl, die sich zwar dehnen, aber nie brechen würde.
    Sicherheitszugänge sind für Menschen.
    Er befahl dem Deck, ihm den Zugriff zu ermöglichen. Die Verschlüsselung protestierte mit störbildhaften Spritzern von Sonnenflecken am Rand seines Sehfelds. Er verzog das Gesicht, als Batteriesäure in seinen Mund floss. Mit einem übelkeiterregenden Ruck gab die Verschlüsselung nach.
    »Was ich meine, ist, dass das soziale Netzwerk früher auch mein Leben war«, sagte Ambrose.
    »Ich habe zwei Millionen, dreihundertsiebenundvierzigtausend und achtundsechzig Freunde«, verkündet Ambrose 47.
    »Tatsächlich? Ich habe einen.« Ambrose befahl dem Deck, die Dateien zu löschen, und startete einen raschen Vernichtungs-Suchlauf gegen eventuelle Back-ups. Die drei Nadeln verschwanden. »Sie heißt Mistletoe.«
    Die Wände von Greymatter schienen einen tiefen Seufzer der Erleichterung auszustoßen, als die erfassten Profildaten ihre Flussrichtung umkehrten und allmählich aus der Türöffnung in das Büro zu sickern begannen. Ambrose 47 blinzelte, als plötzlich ein dicker Strang rot-weiß-blauer Veranstaltungseinladungen zum Vierten Juli an seinem Kopf vorbeischoss. »Ich wusste ja, dass mein Process Flow korrekt war.« Missbilligend schüttelte er den Kopf. »Du bist verrückt geworden.«
    »Davon hab ich auch schon gehört.« Ambrose trat einen Schritt zurück. Seine Fingerspitzen wurden taub. »Sag mal, wie würde es dir gefallen, der neue Präsident und Vorstandsvorsitzende von UniCorp zu werden?«
    Ambrose 47 glättete nervös die Revers seines Anzugs. »Das ist schon immer das Primärziel meines Zehnjahresplans gewesen. Aber du kannst doch nicht einfach –«
    »Nennen wir’s deinen Traum.«
    »Was?«
    »Sagen wir, es ist dein Traum gewesen.«
    »Das UniCorp-Protokoll verbietet mir jede private –«
    »Sag’s einfach, Siebenundvierzig!«
    »Es ist immer mein Traum gewesen.«
    »Was genau?«
    »Die Firma eines Tages selbst zu leiten.«
    »Dann herzlichen Glückwunsch zu deiner Beförderung.«
    »Ich bin nicht dazu qualifiziert, UniCorp auf
deiner
Seite zu leiten.«
    »Du kriegst das schon hin. Aber ich schlage vor, du suchst dir ein neues Büro.«
    Ambrose machte einen Schritt rückwärts in die Überreste der Version-3.0-Maschine, wo augenblicklich Gedanken-Streams um ihn herumpeitschten wie wild gewordene Aale.
    Esse grade genüsslich einen absolut überirdischen Salat.
    Also hab ich’s ihm gesagt und er hat sich mächtig aufgeregt.
    Habt so viel Spaß und ganz liebe Grüße an Deine Cousine!
    Ambrose sah einen rot-braunen Ärmel aufblitzen, als Ambrose 47 kurz durch die Türöffnung griff, dann aber vor den Datenschwärmen zurückschreckte. Seine Augen und Ohren fühlten sich riesenhaft an, während die ungeheure Vielzahl von Anblicken und Klängen an der Oberfläche seines Körpers entlangstrich. Das Upgrade schaltete sich ab. Er bewegte sich auf einen undeutlich umrissenen, fahlen Lichtschein zu. Ein Geruch wie nach verbranntem Haar ließ ihn die Luft anhalten. Er dachte an Mistletoe und versuchte, sich in sie hineinzuversetzen: Was würde sie tun, wenn sie sich in einer neuen Welt wiederfand, die nicht allzu verschieden von ihrer alten war? Wohin würde sie gehen? Als er sich aus den Trümmern jenes Lebens erhob, das ein anderer ihm vorherbestimmt hatte, war Ambrose sich ziemlich sicher, dass er wusste, wo er suchen musste.

17

Freunde
    Mistletoe begann sich bereits zu fragen, ob überhaupt jemand zu Hause war, als ein kleines Viereck in der Mitte der Tür beiseiteglitt und ein haselnussbraunes Auge durch die Öffnung spähte. Ihr fiel ein, dass es vermutlich an ihr wäre, die ersten Worte zu finden, doch sie wusste nicht einmal, wie sie anfangen sollte, um die Situation zu erklären, besonders nicht hier auf der Türstufe.
    Dann wurde ihr klar, dass sie ja eigentlich gar nichts zu erklären brauchte, dass es vielleicht sogar besser war, wenn sie es nicht tat.
    »Hi«, sagte sie.
    Das Auge wurde schmal.
    »Ich heiße Mistletoe. Ich bin …« Was war sie? Müde? Ängstlich?
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