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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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ziemlich einseitig.
    Sie seufzte und warf durch die klare Plexiglastür einen Blick auf Jiri, der über einem zerfledderten alten Bedienhandbuch hockte und sich blinzelnd den Sinn der Worte erschloss. Sie hatte schon andere Ausländer auf diese Art West-Englisch lesen sehen. Aber keiner von ihnen hatte sich Notizen gemacht wie Jiri, bei dem es aussah, als würde er den kompletten Text noch einmal abschreiben. Seine Methode schien lächerlich, aber sie hatte ihn nie danach gefragt, hatte es einfach in jene Kategorie von Dingen sortiert, über die sie niemals sprechen würden. Seit vor sechs Monaten die bösen Träume angefangen hatten, war diese Kategorie ständig gewachsen. Heimlichkeiten führten scheinbar zu noch mehr Heimlichkeiten. Und schon immer hatte die Art, wie Jiri mit ihr redete, etwas Hastiges und Gereiztes an sich gehabt, so als wäre es ihm lieber, sie behielte einfach alles für sich. Also tat sie das, meistens. Ihre neueste Heimlichkeit war ein Geschenk von Sliv, eine Halskette mit einem silbernen Amulett aus drei ineinandergreifenden Zahnrädern. Er hatte ihr noch nie etwas geschenkt, und sie war zu verblüfft gewesen, um ihm zu danken. Sie trug die Kette versteckt unter ihrem Shirt. Die winzigen Zahnräder ruhten in der flachen Mulde, dort wo ihr Schlüsselbein auf ihre Kehle traf.
    Sie beobachtete Jiri, der sich am Schnurrbart kratzte und die Seite umblätterte. Er war zu beschäftigt, um zu merken, dass sie den ganzen Tag mit ihrem Scooter unterwegs gewesen war, ohne sich zu melden. Sie zog mit den Armen die Knie an die Brust und betastete ihr Schienbein – das geprellt war, weil sie sich zwischen einem liegen gebliebenen Transportbus und einem Gewürzimport-Karren hindurchgezwängt hatte. Die Prellung war empfindlich, aber nicht unerträglich.
    Auf der anderen Seite des Stegs, der schaukelnd unter dem Sphärenschild verlief, kümmerte sich ein junges Paar um ein Feuer. Mistletoe winkte, doch auch die beiden hatten keine Zeit für sie und schauten nicht einmal in ihre Richtung. Sie legte sich auf den Rücken, den blauen Zopf als Kissen unter dem Kopf, und starrte hinauf durch die Löcher. Sie fragte sich, wie viele andere Kids wohl das Gleiche taten. Jedes Mal wenn sie sich
andere Kids
vorstellte, hatten sie exakt dieselben Gedanken und Ideen und Fragen wie sie selbst. Sie linste über den Rand des Balkons auf das Gedränge der endlosen Massen unter ihr – Little Saigon war wie eine vollreife Traube, deren matschiges Innenleben mehr Platz braucht, als ihre Haut bietet – und verlor die Hoffnung. Denn was spielte es schon für eine Rolle, was sie dachte? Sie war ein Staubkorn, ein winziges Teilchen, dessen Leben und Tod darin bestanden, durch ein Loch nach oben zu starren, während alle Welt ihren Geschäften nachging, als wäre sie nie geboren worden.
    Wie so oft, wenn sie einen frischen Gedanken brauchte, stellte sie sich Tante Dita vor, den einzigen Menschen, der es je fertiggebracht hatte, dass sie etwas tat, das Spaß machte. Es war Tante Dita, die ihr geholfen hatte, genau die richtigen Duftnoten, Jasmin und Roggen, für ihren Zopf auszusuchen und ihn mit einem Brei aus zerdrückten Wurzeln blau zu färben. Und es war Tante Dita, die sie in die Oberstadt in die Erholungszone für Nominierte Jugendliche des UniCorp-Parks geschmuggelt hatte, in der es Scooter-Rampen gab und eine freie Unison-Simulation, die angeblich so gut wie echt war.
    Unison: die grandiose Krönung aller menschlichen sozialen Netzwerke. BetterLife. Die Massen-Halluzination. Wie auch immer es vermarktet und beworben wurde, es spielte für Mistletoe kaum eine Rolle. Sie konnte sich schon die hartkodierte ID für den Zugang zum oberen Teil von Eastern Seaboard City nicht leisten, und noch viel weniger eins der begehrten Unison-Log-ins.
    Aus dem Innern des Hauses dröhnte plötzlich zorniges Fluchen. Sie wandte den Kopf. Jiri schlug mit seiner riesigen Pranke zweimal auf ein vorsintflutliches Mobiltelefon, dann schleuderte er es mit Wucht auf den Boden. Wie alle Subsphären-Bewohner musste er für das kleinste bisschen Empfang etliche ramponierte Uralt-Handys ausprobieren, und sie beobachtete diese Szenen – großer frustrierter Mann, kleines hilfloses Telefon – stets mit ratlosem Vergnügen. Er griff nach einem anderen, drückte auf einen Knopf und begann zu brüllen.
    »Ja, aber – ja. Wie ich gesagt hab. Klar bin ich zu Hause, es ist da, wo …« Seine Schultern sackten nach vorn, als er die Stimme senkte. »Jetzt?
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