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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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Irgendwer würde kommen, um zu sehen, was los war. Andere Cops, die ihre Kollegen am Boden finden würden. Nicht gerade etwas, bei dem sie dabei sein wollte, um Rede und Antwort zu stehen.
    »Steig auf«, sagte Mistletoe. Jetzt warf der Junge einen kurzen Blick auf Nelson, dann sah er zum ersten Mal sie an. Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Sie las es in seinem Gesicht:
Auf das Teil?
Der Scooter war winzig, verrostet, hundert Jahre alt. Rich Boy hatte sich vermutlich noch nie in irgendwas weniger Schickem fortbewegt als einem dieser schnittigen Gelenkrahmenwagen, die sie durch die Löcher im Sphärenschild beobachtete.
    »Steig auf.«
Sie griff nach dem Ärmel seines Shirts. Ihre Hand glitt durch die Projektion des marineblauen Stoffs und streifte das hautenge luftdurchlässige Material seines Skinsuits. Drei Meter entfernt fing der weibliche Cop an, sich zu rühren. Der Junge schluckte einmal – sie sah den Kloß in seinem Hals auf und ab hüpfen –, dann schwang er sich auf den Sozius des Scooters. Die zweifache Last strapazierte die Auftriebe und Nelson beschwerte sich mit einem verärgerten
Whirrrr
. Der Junge legte behutsam die Arme um Mistletoes Taille und nieste, als ihr dichter, duftender Zopf seine Nase kitzelte.
    Sie glitten an einem steten Strom aus selbstvergessenen Transportern vorüber. Mistletoe beneidete sie um ihre hirnlose Gleichgültigkeit – was wäre daran so schlecht? Ob sie sich wohl an etwas aus ihrem ehemaligen Dasein als KI -Einheiten erinnerten? Mit einem Mal war ihr speiübel, und sie stoppte den Scooter. In den letzten Sekunden seines Lebens hatte Jiri sie angesehen, und sein Blick war voller Schmerz gewesen. Sie erbrach sich. Die Waffe des Cops hatte irgendwas Furchtbares mit seinen Eingeweiden angestellt. Sie stützte sich seitlich gegen die Zufahrtsmauer und übergab sich erneut.
    »Bist du okay?«, fragte der Junge.
    Sie antwortete mit einem erstickten Schniefen, wischte sich über den Mund und legte den Gang ein. Der Scooter kam ruckelnd in Fahrt und schlingerte eine Rampe hinauf zur Straßenebene, wo eine Gruppe zerlumpter Kleinkinder störanfällige Holowürfel gegen eine leere Kiste warf. Auf einen Schlag vermischten sich die vertrauten chaotischen Klänge und Düfte Little Saigons mit dem Brummen von Nelsons Motor. Sie raste mitten durch die Gruppe der Würfelspieler, manövrierte geschickt durch die Menge und überquerte die Straße. Dann, am Fuß eines Barackenhaufens ein paar Blocks entfernt von ihrem eigenen, stieg sie vom Scooter. Ihr war bewusst, wie nah sie dem Schauplatz von Jiris Tod waren, und ihr Straßeninstinkt sagte ihr, sie müsse nach oben, bloß nach oben. Ebenso war sie sich des Umstands bewusst, dass der Junge hinter ihr so sehr versuchte, nicht zu weinen, dass sein Körper von überraschend heftigen Zuckungen geschüttelt wurde. Sie mochte nicht hinsehen, sonst wäre sie es, die in Tränen ausbrach. Ihre Nerven lagen blank, fühlten sich wund an.
    »Tut mir leid«, murmelte er.
    »Ich soll zu meiner Tante Dita gehen, wenn Jiri irgendwas passiert«, sagte sie, so sachlich sie konnte. »Ich musste es ihnen versprechen.«
    Der Junge zuckte ein weiteres Mal, dann war er ruhig. Sie führte ihn zur offenen Tür des kistenartigen Aufzugs und schob ihren Scooter hinein.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich bin – danke.«
    Ein einzelner dunkler Ölfleck zierte das blasse Gesicht des Jungen. Davon abgesehen wirkte er, als wäre er gerade einem Fashion-Wiki entstiegen.
    »Also, wer bist du?«, fragte sie. Doch ehe er etwas sagen konnte, verschwamm ihr der Blick, heiße Tränen kamen. Die Tür schloss sich, und sie fuhren aufwärts.
    »Ich bin …«, begann er, hielt dann inne und starrte auf die metallene Wand des Aufzugs, auf die jemand eine welke orangerote Blüte gesprayt hatte. »Heute Morgen war ich noch jemand anders.«
    Sie blinzelte die Tränen fort, festigte ihre Stimme. »Du bist von oben.«
    Er nickte.
    »Und was machst du dann in Little Saigon?«
    Er legte seine Handflächen gegen die Wand des Aufzugs und ließ sich nach vorn fallen, sodass seine Stirn auf dem Zentrum der Blüte ruhte. Orangerote Blütenblätter umrahmten schlaff sein glänzendes Haar. Er holte tief Luft und atmete aus.
    »Es war ein sehr seltsamer Tag.«

2

Der Junge im Anzug
    Sein Name war Ambrose Truax, und sein seltsamer Tag hatte gleich nach Tagesanbruch begonnen, mit einem scharfen Klopfen an seiner Schlafzimmertür
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