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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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und einer Stimme, die nach ihm rief.
    »Sir? Es ist Zeit.«
    Ambrose tauchte aus den Tiefen des Schlafs auf, weg von dem Traum, den er beinahe jede Nacht hatte, seit er vor sechs Monaten fünfzehn geworden war. An diesem Morgen erwachte er mit einer Abfolge von Eindrücken: kaltes Metall, Dunkelheit, die Stimme seines Vaters. Er schauderte und blinzelte den letzten Rest Schlaf fort, der ihm noch in den Augenwinkeln klebte. Nach der heutigen Modifikationsprozedur würde er nie wieder schlafen.
    Das Schlafzimmer, das sein Erwachen bemerkte, regelte die Verdunklung des Fensters herunter, und allmählich füllte sich der Raum mit sanftem, zitronengelbem Sonnenlicht.
    Nochmaliges Klopfen. »Sir?«
    Ambrose setzte sich auf, während sein standardisierter morgendlicher Process Flow vor seinem geistigen Auge erschien, hier und da angepasst, um der Bedeutung des Tages Rechnung zu tragen. Es würde zusätzliche Vorbereitungen geben. Er rief Richtung Tür: »Wir treffen uns in sieben Minuten in der Halle.« Schritte entfernten sich schlurfend.
    Mit seinen fünfzehn Jahren war Ambrose der jüngste UniCorp-Mitarbeiter. Der nächstältere, ein Datenmapping-Wunderknabe aus der Greater London Expansion, war neunzehn. Ambrose hatte sogar ein eigenes Process-Flow-Team unter sich, was bedeutete, dass er für das Verfolgen der Freundschafts-Threads und die Vorhersage des Userverhaltens innerhalb des sozialen Unison-Netzwerks verantwortlich war. Dies garantierte, dass jedes Unison-Log-in ein einzigartig befriedigendes, angenehmes und effizientes Erlebnis war. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung zahlte stattliche Summen für ihre Unison-Profile, und es war Ambroses Job, die Leute wünschen zu lassen, sie könnten für immer eingeloggt bleiben.
    Um die Tatsache, dass Ambrose der Sohn von UniCorp-Firmenchef Martin Truax war (und reicher, als Mistletoe sich überhaupt vorstellen konnte), hatten die älteren Mitarbeiter nie viel Aufhebens gemacht, und zwar aus einem simplen Grund: Er war verteufelt gut in seinem Job. Die Unternehmensweisheit besagte, dass die wahrhaft talentierten Process-Flow-Mitarbeiter eine Art sechsten Sinn dafür hatten, eine Vielzahl von Freundschafts-Threads und Gedanken-Streams in Hinblick auf deren wahrscheinliche Resultate zu verfolgen. Für Ambrose war dieser Job nichts anderes als eine erweiterte Nutzung der Funktionsweise, mit der sein Verstand auch sonst arbeitete. Er hatte gewusst, dass er genau sieben Minuten brauchen würde, um sich für seinen Tag fertig zu machen, ehe er auch nur einen einzigen echten Gedanken gefasst hatte, was er als Erstes, Zweites, Drittes tun würde. Tatsächlich hatte er schon vor langer Zeit gelernt, dass er seine Routine an jedem Punkt willkürlich durchbrechen konnte – um aus dem Fenster zu starren, ein zweites Glas synthetisierten Grapefruitsaft zu trinken – und trotzdem immer exakt sieben Minuten brauchte.
    Wie zum Beweis dessen sprang er aus dem Bett und trat ans Fenster. Er wohnte mit seinem älteren Bruder Len im 298. Stock der Great Plains Apartments, so genannt, weil die benachbarten Atmoscraper fast ausnahmslos Weidelandgebäude waren. Von seinem Fenster aus, gut anderthalb Kilometer über dem Sphärenschild von Eastern Seaboard City, sah Ambrose zu, wie über den Wiesen die Sonne aufging. Lodernd war die Morgendämmerung heraufgezogen, und jetzt spreizten orangerote Sonnenstrahlen sich gierig über die gepflegten sattgrünen Dächer. Er legte sacht seine Handfläche auf die Fensterscheibe, um die Verdunklung gegen das gleißende Licht zu verstärken, und betrachtete eine Herde Kühe – kleine schwarz-weiße Kleckse aus dieser Entfernung –, die auf einer der Weiden grasten. Sie erinnerten ihn an die Milchfarm an der Grenze der New England Expansion, die seine Familie vor Jahren bereist hatte. Sein Vater hatte Ambrose und Len für eine oder zwei Stunden auf eigene Faust das Gelände erkunden lassen, und gemeinsam hatten die beiden die laborgezüchteten Kühe bis an den Rand der Weide gejagt. Sie war von einer Art nahezu unsichtbarem Plexiglaszaun umgeben, sodass die Kühe nicht hinunterstürzen und mit Wiedereintrittsgeschwindigkeit durch den Sphärenschild krachen konnten, aber Len war es gelungen, ein winziges Loch zu finden.
    Ambrose! Hier.
Len reichte ihm eine Murmel und grinste wölfisch.
    Was?
    Lass sie fallen.
    Durch den Zaun?
    Japp, es sei denn … herrje, du hast Schiss. Du bist echt ein Podcast.
    Bin ich nicht! Ich mach’s ja, bloß – gleich
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