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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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in einen Raum mit geöffneten Scannerröhren, in Zweierreihen geordnet wie die Schlafplätze in der Quarantäneabteilung eines Krankenhauses. Ambrose ging zwischen den Reihen hindurch, überprüfte jede einzelne Röhre. Sie waren leer. Die allerletzte war geschlossen.
    Ambrose spürte den instinktiven Widerstand seines Gehirns gegen seine Halluzinationen, schwach und kurzlebig, ehe ihn schleichende Furcht überkam, verbunden mit dem Gefühl, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Er sah, wie seine Züge sich matt in der glanzlosen Oberfläche der Röhre spiegelten. Dann ließ er den Deckel zur Seite gleiten, blickte auf Martins zu einer Grimasse erstarrtes Gesicht. Das Gewebe um den Mund war zu einer durchscheinenden, papierdünnen Membran verdorrt, die das blassrosa Zahnfleisch und die gelben Zähne freilegte. Die Augen waren in dunkle Höhlen gesunken. Ein Wirrwarr von Drähten spross aus seinen Schläfen und zwischen den Strähnen dünner werdenden Haars auf seinem Kopf hervor.
    Vergeblich versuchte Ambrose, diesen ganzen Ort für alle Zeit aus dem Dasein zu blinzeln.
    Martins Unterkiefer klappte herunter. Das Fleisch seiner Wangen riss auf, weitete sein Lächeln bis zu den Ohren.
    Das hier ist nicht real.
    »Ich wollte, dass wir glücklich sind«, gurgelte Martins Kehle. Sein nutzloser Mund stand offen, ohne sich zu bewegen.
    Ambrose konnte nicht anders, er musste antworten, auch wenn ihm vage bewusst war, dass er ein Gespräch mit sich selbst führte. Der Anblick von Martins ausgezehrtem, geschrumpftem Körper ließ ihn bedauern, was er gleich tun würde.
    »Ich
war
glücklich«, sagte Ambrose aufrichtig. »Aber das Leben, das du mir geschenkt hast, war eine Lüge.«
    Ambrose griff ins Innere der Röhre. Ein Gestank stieg auf, widerlich süß und atemberaubend. Er hob Martins zerbrechlichen Arm heraus. Die Haut war wie zähes Gelee; wenn er zu stark drückte, würde sie unter seinen Händen dickflüssig und glitschig werden. Ein roter Draht steckte mitten in Martins skelettartiger Handfläche.
    »Es ist immer noch Zeit.« Martins Stimme kam jetzt von woanders her. Ambrose suchte nicht nach ihr. »Wir können noch einmal von vorn anfangen.«
    »Das tue ich grade«, sagte Ambrose. »Nur nicht hier. Nicht mit dir.« Er nahm den andern Arm hoch. Die Handfläche war auf die gleiche Weise angeschlossen.
    Die kräftigen Sehnen in Martins dürrem Hals schwollen an und platzten. Braune Flüssigkeit sickerte aus den Wunden und stank wie verfaultes Fleisch. Ambrose beruhigte seine zitternden Hände.
    Ich bin stärker als ein Mensch.
    Er ließ Martins Arme aus der Röhre hängen.
    »Du hast keinen Sicherheitszugang zu meinem Admin-Deck«, sagte Martin. »Das ist eine Nummer zu groß für dich.«
    »Ich bin erschaffen worden, um unendliche Mengen an Profildaten aufzunehmen, schon vergessen?« Ambrose umklammerte Martins linkes Handgelenk und zog den roten Draht heraus.
Ich kann unmögliche Dinge tun.
Er stieß die rasiermesserscharfe Spitze in seine eigene Handfläche. Der Schmerz war eine feurige Kralle, die seinen Arm aufriss und sich in seine Schulter grub.
    Martins tränenerstickte Kehle röchelte. »Du musst kalibriert werden. Tu das nicht. Bleib bei mir.«
    Mit dem Fuß presste Ambrose Martins anderes Handgelenk gegen die Röhre und zerrte den zweiten Draht heraus.
    »Ich widerrufe das Upgrade«, sagte Ambrose. »Ich gebe diesen Leuten ihr Leben zurück.«
    »Du bist nicht autorisiert«, entgegnete Martin. Sein Kopf zappelte wild. Der Unterkiefer schlug auf und ab. »Mein Admin-Deck ist verschlüsselt.« Die gelben Zähne klapperten und zerbrachen. »Du hast keinen Sicherheitszugang.«
    Ambrose schloss die Augen.
Ich bin stark genug, meinen Geist zu beherrschen.
    »Sicherheitszugänge sind für Menschen.«
    Ambrose spürte, wie Martins Körper erschlaffte. Im Raum war es wieder still. Er öffnete die Augen und betrachtete den ausgezehrten Leib des Mannes, der ihm das Leben geschenkt hatte. Dann stieß er den zweiten Draht in seine andere Handfläche. Die silbern glänzenden Bewässerungsleitungen über ihm wichen zurück, formten sich zur fernen Gewölbedecke einer stählernen Kathedrale. Nichts nahmen seine Sinne mehr wahr, allein seines rasenden Herzschlags war er sich noch grausam bewusst. Der Druck in seiner Brust erstickte den letzten Rest Sauerstoff.
Wie ein Kolibri
, dachte er.
Genau so ist mein Herz.
Er konnte sich kaum an seinen eigenen Namen erinnern, und es gelang ihm, ihn sich noch ein einziges Mal
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