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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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vorzusagen, dann war sein Geist vollkommen leer.
    ***
    In den Tiefen eines wässrigen Traums schmeckte Ambrose Rost. Sein Mund füllte sich mit Speichel. Er schluckte die kupferne Bitterkeit hinunter und hoffte inständig, dass der widerliche Geschmack die Erinnerung an den Trommelfeuer-Kollaps seines Herzens auslöschte. Er kannte dieses Aroma: eher Batteriesäure als Rost. Ein Kitzeln regte sich in seinem Rachen und dehnte sich aus bis zur Schädelbasis, ein unerträglicher Juckreiz, der ihn wünschen ließ, seinen Kopf aufreißen zu können, um sich zu kratzen.
    Das Log-in war abgeschlossen.
    Der Juckreiz in seiner Kehle setzte sein Gesicht in Brand. Er wollte sich über die Haut reiben, doch dann bemerkte er, dass entweder seine Hände fehlten oder sein Gesicht nicht mehr existierte. Kurz und entsetzlich quälte ihn die Empfindung, statt Nase und Mund wäre dort nichts als eine tiefschwarze Höhle.
    Als die Freude seinen Geist überschwemmte, war Ambrose sich schlagartig wieder seines ganzen Körpers bewusst. Er fühlte, dass er einen Buckel machte wie eine UniPet-Katze, und er wusste, dass er gestorben und in Martins Hartkodierung wiedergeboren worden war. Von der Flimmer-Ekstase blieb eine innere Wärme zurück, so als hätte er gerade ein Teekügelchen geschluckt. Er war zu Hause – und dieses Zuhause war während seiner Abwesenheit in erheblichem Umfang ausgebaut worden. Er fand sich im Greymatter-Büro hinter Martins Schreibtisch wieder. In dem perfekt kalibrierten Sessel fühlte er sich zugleich entspannt und energiegeladen. Er lehnte sich zurück, betrachtete Ambrose 47 in seinem albernen braun-rot gestreiften Anzug und versuchte, in seinem Gegenstück noch etwas anderes zu sehen als eine unbedeutende Ansammlung grellfarbiger Daten.
    Ambrose 47 wischte sich irgendetwas von seinem Ärmel, dann sprach er mit einem kühlen, unwirschen Glucksen. »Das ist höchst unprofessionell.«
    Ambrose zuckte. Er sehnte sich danach, sein Gegenstück loszuwerden und Martins – jetzt
sein
– Admin-Deck zu erkunden. Unison reagierte auf diesen Wunsch, und das Deck blendete seine Wahrnehmung aus, sodass das Büro zu einem Bild auf einem Bildschirm innerhalb eines Bildschirms schrumpfte, ähnlich der Aufnahme irgendeiner grobkörnigen Prä-Unison-Fernsehsendung. Ambrose 47 war nun nichts weiter als ein unscharfer, lautstark protestierender Pixelhaufen, während Ambrose auf Martins Unternehmens-Feed zugriff, eine Art zentralisiertes Nadelkissen der Unison-Analytik, das glitzerte wie Eastern Seaboard City bei Nacht. Die Schnittstelle war das Schönste, was er jemals gesehen hatte. Er war nicht bloß erneut im sozialen Netzwerk eingeloggt; er
war
das soziale Netzwerk. Daten sortierten sich entsprechend seiner aktuellen Fähigkeit, sie zu begreifen, gehorchten seinen unausgesprochenen Befehlen, als ob er ein Lehrer wäre, der eine widerspenstige Klasse mit einem einzigen funkelnden Blick zum Schweigen bringt. Eindrücke von möglichen neuen Usern, die noch nicht einmal damit begonnen hatten, sich Profile anzulegen, hinterließen deutliche Spuren in seinem Geist, so als hätte Unison die Hand nach der Welt der Leibhaftigen ausgestreckt, ihnen auf die Schulter getippt und ihre Unterschriften verlangt. Verglichen mit diesem Universum war sein altes Admin-Deck ein Spielzeug.
    Im geschrumpften Innenraum des Greymatter-Büros wurde der verschwommene Fleck, der Ambrose 47 war, immer aufgeregter.
    »… und nicht nur das, es ist auch ein Vertrauensbruch gegenüber dem Schöpfer-Direktor!«
    Die Stimme klang in Ambroses Ohren nicht lauter als das Gemaule eines Moskitos. In dieser Anderswelt sinnloser Ablenkungen außerhalb der Grenzen des Admin-Decks moserte Ambrose 47 weiter und weiter. Das Deck reagierte auf dieses fortdauernde Ärgernis, indem es Ambrose die Kontrolltafel für Accountlöschungen anzeigte. Ambrose fragte das Profil seines Gegenstücks ab. Überall um ihn herum bebte das Deck in gespannter Erwartung. Die Löschung eines Users aus einer parallelen Realität war zweifellos eine Premiere. Es wäre eine interessante Fallstudie: Auch wenn die Löschung Ambrose 47s Tod zur Folge hätte, könnte Ambrose doch wenigstens Basisdaten für die Verbesserung der Sicherheit in künftigen Unison-Upgrades erhalten. Sein Finger schwebte über dem rot blinkenden Namen seines Gegenstücks. Es fühlte sich so natürlich an, die absolute Kontrolle über alles zu haben, seine Entscheidungsprozesse unmittelbar im Deck integriert zu sehen.
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