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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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seinem Schlafzimmer anzeigen.
    Im nächsten Augenblick stand er inmitten der wirbelnden Details ihres Lebens. Sie war vierundsechzig, hatte jedoch ihrem Account ein Upgrade verpasst, um jung und schön auszusehen. Er schaute zu, wie ihr blonder hochgewachsener Avatar auf einem Willkommens-Brunch für neue High-Society-User Freundschaften annahm. Sie bewegte sich unter den Gästen entspannt und selbstbewusst, schüttelte Hände und verteilte angedeutete Wangenküsse. Er griff auf ihren Gedanken-Stream zu:
    Lori Frederick-Smith denkt, dass sie nichts dagegen hätte, für immer hierzubleiben.
    Ambrose lächelte. Der ältere Teil der Weltbevölkerung hatte sich nur zaghaft mit der radikal neuen Technologie der sozialen Netzwerke arrangieren können, bis man vor Kurzem unter dem Motto »Ewige Jugend in Unison« eine Werbekampagne für die Zielgruppe der Sechzig- bis Hundertjährigen gestartet hatte. Inzwischen bescherten die neuen User aus dieser Altersklasse UniCorp einen Großteil der Jahreseinnahmen. Das Ganze war, wie sein Vater es ausdrücken würde, eine erfolgreiche Profitmaximierung gewesen.
    Ambrose leitete Mrs Frederick-Smiths Profildaten an sein Team weiter mit dem Auftrag, ihr eine Reihe junger, wohlhabender Freunde zuzuweisen, die beinahe – aber nicht ganz – so attraktiv waren wie sie selbst. Unison hatte bereits damit begonnen, ihre Vorlieben und Abneigungen zu analysieren und sich entsprechend anzupassen; sein Team würde sich um den Rest kümmern. Binnen weniger Tage würden die letzten vierundsechzig Jahre ihres Lebens sich in düsteren Nebel auflösen, während sie selbst sich in einer Welt bewegte, die zu nichts anderem bestimmt war als dazu, sie glücklich zu machen.
    Er fühlte etwas sanft gegen sein Bein stupsen. Lincoln, sein UniPet-Hund, schaute zu ihm auf.
    »Tut mir leid, Kleiner«, sagte Ambrose und kraulte das braune Fell auf Lincolns Kopf. »Ich muss los.« Lincoln breitete seine Flügel aus und flatterte hinauf zur Zimmerdecke, wo er sich kopfüber niederließ wie eine riesige pelzige Fledermaus. Ambrose verzog das Gesicht und fragte sich, wie er je hatte glauben können, ein fliegender Hund wäre cool. Sofort verschwand Lincoln von der Decke und tauchte im selben Moment, gegen sein Bein stupsend, wieder auf. Von den Flügeln war nichts mehr zu sehen.
    »Guter Junge«, sagte Ambrose. Dann presste er seine Handflächen aufeinander und flimmerte aus. Er blinzelte. Sein Schlafzimmer wirkte in der realen Welt schmutzig und trist. Er fühlte sich isoliert, abgetrennt von der Menschheit, abgeschnitten vom unablässigen Strom lebenswichtiger Informationen. Einsamkeit quälte ihn. Der Drang, erneut einzuflimmern, war beinahe übermächtig, doch er erkannte ihn als Symptom des Log-outs und atmete tief durch.
    »Für zehn Stunden außer Haus«, informierte er das Zimmer. Lautlos kalibrierte es sich auf ein fein austariertes Gleichgewicht, um während seiner Abwesenheit Energie zu sparen. In ein paar Sekunden würde er sich tatsächlich dem realen Pendlerstrom anschließen, den sein Bruder Len den Zug der Leibhaftigen nannte. Ein weiteres Mal atmete er tief durch und fragte sich, ob sein Leben wohl bald anders aussah, wenn er es mit Augen betrachtete, die niemals schliefen, dann drehte er sich um und entriegelte mit der Handfläche die Tür.
    Zeit, zur Arbeit zu gehen.
    Die Zentrale von UniCorp erstreckte sich über die obersten fünfundzwanzig Etagen des UniCorp-Gebäudes, eines 375 Stockwerke hohen Atmoscrapers. Es gehörte zu den ersten Gebäuden, die mit einem roten Plastahl-Backstein-Polymer verkleidet worden waren, sodass die gesamte kilometerhohe Fassade wirkte wie hundert übereinandergestapelte Prä-Unison-Feuerwachen. Zu der Zeit, als Ambrose geboren wurde, hatte UniCorp noch das komplette Gebäude eingenommen. Kurz darauf war Unison 2.0 ans Netz gegangen, und in jedem der folgenden Monate hatte man weitere leere Büroetagen in Luxusapartments umgewandelt, weil Tausende Mitarbeiter dem Büroleben zugunsten des Komforts, ausschließlich in Unison zu arbeiten, den Rücken gekehrt hatten.
    Aus Sicherheitsgründen verfügte das UniCorp-Gebäude nur über Parkplätze auf Straßenniveau. Mr Danielson, ein älterer Mitarbeiter, der die Familie Truax seit Ewigkeiten kannte und als Ambroses Fahrer und Begleiter angestellt war, lenkte den Wagen sanft unter dem in luftiger Höhe fließenden Verkehrsstrom hindurch und parkte auf dem für ihn vorgesehenen Platz. Ambrose blickte flüchtig hinauf zu den
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