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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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stottrige Avatare – simple Projektionen –, die sich schwebende Texte ansahen und neue Freunde von Hand ihren Listen hinzufügten. Es war peinlich, und er fühlte eine seltsame Art von Dankbarkeit, an keinem anderen Ort und in keine andere Zeit hineingeboren zu sein.
    U-Space hatte sich nicht lange gehalten. Es ähnelte viel zu sehr einem Spiel und viel zu wenig der realen Welt. Die Leute wollten etwas Vertrautes, eine verbesserte Version der Wirklichkeit, in der alles glattlief. Eines allerdings hatte U-Space richtig gemacht: Es hatte einem jungen Genie namens Martin Truax den Weg geebnet, das wie aus dem Nichts mit seinem revolutionären BetterLife-Netzwerkmodell auftauchte.
    Martin Truax verbot seinen Programmierern, den vorhandenen Code einfach zu modifizieren. Unison sollte von Grund auf neu aufgebaut und seine einzelnen Teile von kleinen Mitarbeiterteams entwickelt werden, die sich jener Philosophie verschrieben, die Danielson gerade zum hunderttausendsten Mal wiederholt hatte: Menschen sind Tiere, und Tiere hassen es, in der Falle zu sitzen. So konnten frische, unverbrauchte Ideen rasch analysiert und in frühe Entwicklungsstadien integriert oder aber in ihre nackten Codezeilen zerlegt und verworfen werden. Das Ergebnis war etwas radikal Neues, das sich dennoch bereits beim ersten Einloggen anfühlte wie die Begegnung mit einem alten Freund.
    Ambrose spazierte vor Danielson her und fühlte sich mehr und mehr wie in einer Traumwelt, als er die Demo der Unison-Version 1.0 erreichte. Sie war schon eine durchaus passable Nachbildung der realen Welt: Man loggte sich ein und bewegte sich im eigenen Haus, im eigenen Viertel, in der eigenen Schule, nur dass einem alles irgendwie besser vorkam – man stand nirgendwo in der Schlange, Informationen waren überall und jederzeit leicht zugänglich, Freundschaften und Aktivitäten wurden durch Process Flows und Prescreens vorgegeben. Die Probleme der realen Welt verschwanden. Allgemeine Zufriedenheit war nun eher die Regel als die Ausnahme. Ambrose musterte prüfend die Demo der Version 1.0, bis deren Mängel nicht länger zu übersehen waren: Sie verhielt sich träge, zeigte Störbilder und Verzögerungen, wenn die Leute an belebte Orte kamen. Er sah zu, wie flackernd ein Einkaufszentrum erschien (herunterskaliert, um in die mit Seilen abgesperrte Ausstellungsfläche zu passen) und Hunderte Leute mitten in ihren Bewegungen einfroren. Er schüttelte den Kopf. Die Tücken von 1.0.
    Danielson war jetzt irgendwo hinter ihm, verschluckt von der Menge, die sich zur Rushhour hier tummelte. Ambrose entdeckte wenige Schritte vor sich einen der zahlreichen Trinkbrunnen, die über die gesamte Lobbyebene verstreut waren. Eine Seite des Brunnens wurde von einer scharf geneigten Wand verdeckt, und Ambrose lehnte sich dagegen, während er zur Version 2.0 hinaufschaute. Die Demo war, wie er wusste, eine Echtzeit-Projektion von tatsächlichen Ereignissen in Unison. Er überlegte, wie es wohl sein mochte, wenn man sie hier zum ersten Mal sah. Er stellte sich vor, er wäre ein durchschnittliches Kind auf einem Ausflug, stünde mitten in der Vorhalle und schaute hinauf zu –
    »Mr Ambrose.« Eine sanfte Stimme, links von ihm. Er drehte sich um. Ein Cop von der Gebäudesicherheit in einer schwarzen UniCorp-Windjacke, Betäubungsschlagstock am Gürtel, Disruptor auf dem Rücken. Ambrose lächelte.
    »Ich hab leider keinen Stift dabei.«
    Leute, die ihn außerhalb von Unison um ein Autogramm baten, taten das oft auf die altmodische Art. Sie waren allesamt deutlich älter als er, und die Überraschung, dass ein Junggenie sich mitten unter ihnen befand, machte sie verlegen und übertrieben ehrfürchtig.
    Der Mann streckte die Hand aus. »Willkommen in Ihrem Gebäude, Sir. Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen.« Sein Lächeln weitete sich zu einem breiten Grinsen.
    Als er die Hand ergriff, spürte Ambrose den kaum merklichen Schock eines nicht autorisierten Nachrichtentransfers, den die Rezeptoren in seiner Handfläche eigentlich hätten blockieren müssen, da er nicht die Erlaubnis erteilt hatte, ihn anzunehmen. Der lächelnde Aufseher hatte seine E-Mail-Filter gehackt.
    »Carpe somnium«
, sagte der Cop und ließ seine Hand sinken.
    »Was?« Ambrose mühte sich, das Gesicht des Mannes, die Stimme, den Händedruck einzuordnen. Nichts. »Warten Sie!«
    Es war zu spät. Der Aufseher verschmolz mit der Menge und war verschwunden. Ambrose versuchte, ihm zu folgen, doch das
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