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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition)
Autoren: Andy Marino
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Gedränge der Touristen und leibhaftigen Pendler, die ihren Tag begannen, war noch dichter geworden. Er sah ein, dass es kein Durchkommen gab, und bahnte sich einen Weg zurück zum Brunnen. Von Danielson war nichts zu sehen. Ambrose rieb seine Handfläche, die infolge des Hacks heftig pochte. Der Nachrichtentransfer hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen; vermutlich störte die heutige Aufregung seine Process-Flow-Routine. Bei größeren Abweichungen vom üblichen Tagesablauf reagierte das System oft genug reichlich chaotisch.
    »Danielson?«, rief er. Ein junges Mädchen mit riesigen grünen Augen – farbgemoddet für ein satteres Grün – starrte ihn an, bis seine Mutter es rüde hinter sich herzog. War das Ganze bloß ein weiterer Test seines Vaters? Oder einer von Lens Streichen? Er könnte versuchen, die betroffenen Process Flows im Spooler ausfindig zu machen und sich dann genau anzusehen, was seine Familie womöglich für ihn geplant hatte. Oder er könnte direkt auf die Nachricht zugreifen. Warum nicht? Es würde nur eine Sekunde dauern.
    Er sah sich nach einer ruhigen Ecke um, doch die Ströme von Touristen und Mitarbeitern ergossen sich bis in die letzten Winkel. Neben ihm versammelte ein UniCorp-Botschafter mit purpurnem Hut eine Gruppe ehrfürchtig staunender Kinder unter der 2.0-Projektion. Hinter der Gruppe befand sich das Café, und dahinter wiederum führte eine Reihe von Türen in den Innenhof. Er bahnte sich grob einen Weg zur Seite und wühlte sich durch die Menge und das belebte Café hinaus in das riesige zentrale Atrium, dessen Wettersystem genau entgegengesetzt zur jeweiligen Jahreszeit programmiert war. Der Sommertag draußen war mild und wolkenlos, was bedeutete, dass im Hof ein Schneesturm tobte.
    Es kribbelte auf seiner Haut, als sein Anzug sich der Kälte anpasste, und er blieb kurz stehen, um sich auf dem völlig menschenleeren Platz umzusehen. Er war als Ausstellungsfläche für Kunst im öffentlichen Raum entworfen worden und beherbergte zurzeit wuchtige Plastahl-Skulpturen mexikanischer Gerichte. Ambrose stapfte durch den knöcheltiefen Schnee, kauerte sich hinter eine klotzige Enchilada und rief sein Nachrichtentransfer-Log auf. Ein schlichtes weißes Eingangsfenster schwebte über seiner ausgestreckten Handfläche. Es gab eine neue Nachricht, eine Audiodatei mit der Betreffzeile
Träume = Wahrheit
.
    Er legte die Hand wie eine Muschel an sein rechtes Ohr und lauschte. Eine Frauenstimme. Leichter osteuropäischer Akzent.
    »
Carpe somnium
, Ambrose Truax. Gleich vorweg: Ich habe diese Datei maskiert, aber Sie wissen ja selbst, wie UniCorp kleinste Unregelmäßigkeiten aufspürt. Also hören Sie gut zu, denn sie lässt sich nur einmal abspielen. Verzeihen Sie den Überfall. Ich hätte gern schon viel früher Ihre Bekanntschaft gemacht, aber meine Kollegen waren dagegen.« Sie schniefte, hielt inne und nieste heftig. Ambrose blinzelte. Sie sprach weiter. »Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, aber wer wünscht sich das nicht. Hier also das, was Sie tun müssen. Verlassen Sie sofort das Gebäude. Fahren Sie per Anhalter, stehlen Sie ein Auto, tun Sie, was immer nötig ist, um von dort wegzukommen. Ihr waches Leben gehört nicht Ihnen – lassen Sie nicht zu, dass er Ihnen auch noch Ihre Träume nimmt. Er will den einzigen Teil von Ihnen vernichten, der die Wahrheit kennt. Und dann gehören Sie ganz und gar ihm. Lassen Sie das nicht zu, Ambrose. Ich kann Ihnen helfen. Fahren Sie nach Little Saigon und gehen Sie dort zu –«
    Mit einem Ruck nahm Ambrose die Hand vom Ohr, löschte die Übertragung und bereinigte den Verlauf des Transfer-Logs.
Netter Versuch
, dachte er. Diese sogenannten Terroristen waren eher armselig als gefährlich. Wie sein Vater immer sagte: Wenn du ganz oben bist, wollen alle ein Stück von dir. Und wenn sie kein Stück von dir kriegen können, wollen sie dich auf ihr Niveau runterziehen. Ein Auto stehlen? Für wen hielten die ihn?
    Die Nachricht machte nur umso deutlicher, wie notwendig die heutige Prozedur war, sagte er sich. UniCorp zu leiten erforderte ständige Wachsamkeit. Wenn er sich erst einmal an ein Leben ohne Schlaf gewöhnt hätte, würde er imstande sein, Unison rund um die Uhr im Auge zu behalten, und könnte durch seine unermüdliche Arbeit für das anhaltende Wachstum und die Profitabilität jenes Imperiums sorgen, das eines Tages ihm und seinem Bruder gehören würde.
    Er duckte sich, um einer wirbelnden Schneewehe auszuweichen, und versuchte
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