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Caras Gabe

Caras Gabe

Titel: Caras Gabe
Autoren: Maya Trélov
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Entscheidungsschlacht zwischen Licht und Dunkelheit.“
    Ich bebte. Es war ein dumpfes Zittern, das von Innen kam, so als ob meine Knochen mit den Worten des Priesters widerhallten und meinen ganzen Körper zum Summen brachten. Weshalb sprach er von der ersten Nacht, wo doch kaum der erste Schnee gefallen war?
    Mit weit gespreizten Händen schlich Bardorack in seinem humpelnden Gang um den Altar. Seine Augen glühten wie von einem inneren Fieber.
    „Die erste Nacht“, zischelte er, „spannt die Brücke zwischen dem letzten Tag dieses Jahres und dem ersten des nächsten Jahres. Es ist eine Zeit, in der weder Mond noch Sterne am Himmel stehen und die Mächte des Lichts ganz denen der Finsternis ausgeliefert sind. Es ist der Zeitpunkt, zu dem die Varuh die Erdoberfläche betreten, um uns in einer alles zerstörenden Schlacht zu vernichten. Wir alle müssen Opfer bringen, um sie davon abzuhalten! Denn dort, wo sie Schönheit erblicken, werden sie zuerst auftauchen, um sie aus der Welt zu tilgen.“
    Bittere Galle stieg mir in die Kehle. In solch einer Nacht vor zehn Jahren hatte das flackernde Licht eines einzelnen Scheiterhaufens gebrannt. Ich schluckte angestrengt, bemühte mich, meine Atmung ruhig zu halten.
    Bardorack hatte sich vor dem Altar postiert. „Diese erste Nacht“, rief er aus, „wird anders werden.“ Er schwieg und wartete. Seine dramatische Pause dehnte sich ins Unerträgliche. Plötzlich reckte er die Arme zum Himmel und schrie: „Ein Lichtträger wird zu uns herabsteigen!“
    Erschrockene Rufe wurden Laut. Einige Menschen warfen sich wimmernd zu Boden, andere blieben starr und stumm in ihrer Angst. Ich konnte die Worte nicht begreifen. Ein Lichtträger in dieser schäbigen Gemeinde? Nie zuvor hatte ich eines der Wesen mit Flügeln aus Glas zu Gesicht bekommen. Es hieß, dass sie so schön waren, dass man bei ihrem Anblick erblindete.
    „Der Lichtträger wird jedoch nur zu uns kommen, wenn wir uns als seiner würdig erweisen.“ Bardorack kniff die Augen zusammen und schlich auf die Gemeinde zu. Seine Stimme senkte sich zu einem bedrohlichen Flüsterton. „Seid ihr würdig sie zu empfangen?“
    Nichts als Schweigen antwortete ihm. Der Priester beugte sich weiter vor, bis sein ohnehin krummer Rücken zu einem Buckel auswuchs, und rieb seine langen Hände aneinander. Ein eifriges Lächeln entstellte sein Gesicht. „Unter euch ist einer, der unrein ist.“ Ein knochiger Finger richtete sich auf die Gemeinde. „Sünde versteckt sich in diesen Reihen.“
    Ängstliche Blicke, die eben noch auf den Priester gerichtet waren, wandten sich nun gegeneinander. Freunde und Familien machten sich bereit, einander zu verraten. Ich fürchtete bloß, dass ich die Einzige war, die das zufriedene Grinsen, das über Bardoracks Gesicht zuckte, sehen konnte.
    Hungrig leckte er sich die Lippen. „Ja“, raunte er. „Wer von euch dient den Varuh? Wer von euch“, brüllte er, „ist mit ihnen im Bunde?“
    Ich befahl meinem Herz, langsamer zu schlagen, doch wie so oft hörte es nicht auf mich. Wie ein brennendes Gift sickerte die Angst durch meine Glieder, floss durch meine Adern und lähmte mich.
    So begann es jedes Mal. So machten sich die Priester ihre Opfer gefügig, denn wir alle wussten: In drei Nächten würde der nächste Scheiterhaufen brennen und ich hatte den Ruf einer Elster vernommen. Vorboten des Todes, Verbündete der Varuh.
    Wie Schorf von einer Wunde riss ich mich von diesem Gedanken los. Niemand durfte sehen, was ich fühlte. Oft genug hatte ich es schon beobachtet. Zuerst streute Bardorack seine Anklagefloskeln wie Samen unter die Gemeinde und musste dann nur noch darauf warten, dass sie auf fruchtbaren Boden fielen. Viel zu häufig war jemand vorgetreten und hatte unter Tränen und angstvollem Stöhnen seine Schuld gestanden. Es war ein abgekartetes Spiel, ein totsicherer Weg, diejenigen auszusieben, deren Charakter zu schwach war, oder deren Angst zu groß.
    Denn wer fühlte sich schon ohne Schuld? Niemand.
    Bardorack schlurfte in die erste Reihe. Sein weißes Gewand war mir so nahe, dass ich den Saum mit den Fingern hätte berühren können.
    „Jemand ist mit den Varuh im Bunde!“, wisperte er. Seine Augen schwebten über der Gemeinde wie Geier, die nach Aas suchen. „Wer ist der Schandfleck, der sich einbildet, sich im Angesicht des strahlenden Lichtes verbergen zu können? Wer glaubt, dass er seine Schuld leugnen kann?“
    Ich bohrte mir den Daumennagel in die Handfläche, um mich von
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