Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung (German Edition)

Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung (German Edition)

Titel: Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung (German Edition)
Autoren: Jaime Reed
Vom Netzwerk:
mich zum Parkplatz, und ich folgte ihm in trunkener Benommenheit. Mein Kopf fühlte sich zehnmal so groß an wie sonst, und wie es mir gelang zu laufen, wusste ich nicht. Die Außenwelt schien im Schnellvorlauf vorbeizuziehen. Autos, Bäume und orangefarbene Kegel auf der Straße nahm ich nur undeutlich wahr, und mit benebeltem Gehirn schlurfte ich hinter Tobias her.
    Sollte ich nicht im Unterricht sein? Ich musste einen Aufsatz über Chaucer abgeben. Ich hatte hart daran gearbeitet, und er machte ein Viertel meiner Halbjahresnote aus. Mein Kursraum lag auf der anderen Seite der Schule. Wo ging ich überhaupt hin?
    Ich fand es heraus, als wir neben Maliks silberfarbenem Toyota stehen blieben. Tobias griff hinter die Rückbanklehne und zog einen rostigen Werkzeugkasten hervor, von dem die rote Farbe abblätterte. Er stellte ihn auf den Boden und wühlte in den verschiedenen Fächern, bis er einen Seitenschneider gefunden hatte. Dann richtete er sich auf und nahm meine Hand sanft in seine. Ich spürte seine kräftigen Finger warm an meinem Handgelenk, das dagegen ganz klein und zierlich aussah. Meine Hand schien ihn zu faszinieren, und fast erwartete ich, dass er mir einen Ring ansteckte.
    »Nur noch eins, bevor wir gehen. Halt still, ich will dich nicht schneiden.« Er schob mein Armband zwischen die stumpfen Klingen des Seitenschneiders.
    Mit einem kurzen »Schnipp« war ich frei. Meine Fessel fiel mit einer merkwürdigen Endgültigkeit auf den nassen Asphalt, die mich gleichzeitig erleichterte und mir Angst einjagte. Ich brauchte mir um das allwissende Auge meiner Mutter keine Sorgen mehr zu machen. Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Ich konnte Caleb so oft besuchen, wie ich Lust hatte. Aber ich war mir nicht sicher, warum ich gerade jetzt das Bedürfnis haben sollte, ihn zu sehen. Das verblasste Abbild seines Gesichts zog vor meinem inneren Auge vorbei und verschwamm immer mehr, bis es nur noch ein Trugbild war – oder eher eine leere schwarze Form, die aussah wie aus dem Hintergrund ausgeschnitten.
    Etwas fehlte, und doch hatte ich mich noch nie so frei gefühlt, so mächtig. Es war ein köstliches Gefühl, das bis in meine Zehen reichte, wie bei einem langen, trägen Räkeln. Es fühlte sich gut an loszulassen, sich einfach zurückzulehnen und »Scheiß drauf!« zu sagen. Und ich würde dieses Hochgefühl auskosten, solange es anhielt.
    Mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht half mir Tobias beim Einsteigen und kletterte auf den Fahrersitz. Er ließ sich Zeit, stellte Sitz und Spiegel richtig ein und suchte sogar in aller Ruhe einen anderen Radiosender, als hätten wir einen Tagesausflug vor uns. Dann setzte er rückwärts aus der Parklücke, legte einen anderen Gang ein und fuhr vom Schulgelände. Ich wünschte nur, ich würde das Ziel kennen.
    Was war mit meinen Klamotten? Hätte ich nicht erst packen sollen? Ich dachte daran, was Mom davon halten würde, dass ich schon wieder schwänzte. Solange das Armband auf dem Parkplatz lag, würde sie annehmen, ich sei noch in der Schule. Aber sie würde sich Sorgen machen, wenn ich heute Nachmittag nicht auf sie wartete, wenn sie mich abholen kam. Ich überlegte, ob ich sie anrufen sollte, aber dann fiel mir ein, dass ich mein Handy in meinem Bücherrucksack gelassen hatte, der in meinem Spind eingeschlossen war.
    Ich sah aus dem Fenster und betrachtete die Stadt, die ich kannte und liebte, mit dankbarem Blick. Ich bezweifelte, dass die Stadt, in die wir jetzt fuhren, auch so einen Charme versprühte. Ja, ich hatte mich oft über die Provinzialität von Williamsburg beschwert und über die Schauspieler in ihren historischen Kostümen, die überall herumliefen, aber es war nun mal mein Geburtsort. Ich nahm die Umgebung in mich auf und erinnerte mich daran, dass es hier nur Wälder und Maisfelder gegeben hatte, als ich noch ein Kind war. Jetzt versperrten Einkaufsstraßen und Fastfood-Läden die Aussicht.
    Sollte ich heute arbeiten? Ich hatte vergessen, auf meinen Arbeitsplan zu sehen. Bestimmt konnte Alicia mich vertreten, aber wie sollte ich sie erreichen? Ich hatte mein Handy nicht dabei. Das kam alles sehr ungelegen, so ganz ohne Vorwarnung. Wir waren ja keine Verbrecher auf der Flucht. Er hätte mir wenigstens erlauben können, meine Tasche zu holen.
    Gab es nicht schon genug Hotels in dieser Stadt, oder mussten sie wirklich immer noch neue bauen? Ich fragte mich, in welchem Wie-hieß-er-noch-mal wohnte. Moment, wie hieß er denn noch mal? Seltsam, vor einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher