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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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von Austin zogen, mit großen Schildern, auf denen Tut Buße, das Ende ist nahe geschrieben stand. Vater tat diese Leute als Dummköpfe ab, doch Travis hatte sie ernst genommen und mich nach einigem Nachdenken gefragt: »Calpurnia, geht heute Abend wirklich die Welt unter?«
    »Nein, du Dummchen. Großpapa hat mir alles erklärt. Das neue Jahrhundert zeigt nur an, wie die Zeit vergeht. Die Zeit ist etwas vom Menschen Erdachtes, sie kommt aus England.«
    »Aber was ist, wenn sie wirklich untergeht? Wer guckt dann nach Jesse James? Und wer füttert Bunny?«
    Aus dieser Diskussion sah ich nur einen Ausweg. »Mach dir keine Sorgen, Travis, ich kümmere mich schon darum.«
    »Ah, gut. Danke, Callie.«
    Um sechs gingen wir hinunter zu einem opulenten Essen. Das Wetter war scheußlich, doch in jedem Zimmer brannte ein kräftiges Feuer im Kamin. Mutter schien ganz entspannt, ihre Wangen waren gerötet. Der perlende Wein, von dem sie immer wieder nippte, schien ihr gutzutun. Im Laufe des Essens brachte Vater verschiedentlich einen Toast aus und versicherte uns, dass die Welt nicht untergehen werde. Er betrachte sich als einen glücklichen Mann, umgeben von seiner liebenden Familie – seinem Vater, seiner Frau und seinen Kindern. Seine Stimme klang belegt, als er das sagte.
    Anschließend zogen wir uns alle für eine Weile in unsere Zimmer zurück, um später für den langen Abend ausgeruht zu sein. Wir sollten beten und über unsere guten Vorsätze nachdenken. Es war nämlich Tradition in unserer Familie, dass jeder von uns aufstehen und seine guten Vorsätze aufsagen musste, die Mutter aufschrieb und in der Familienbibel aufbewahrte, bis die alten Vorsätze von den neuen abgelöst würden. Ich legte mich aufs Bett und schaute durchs Fenster auf den wolkenverhangenen Himmel. Ein Teil von mir wollte, dass unser Leben immer so weiterging wie bisher, dass wir alle immer weiter zusammenlebten in diesem Haus, in dem immer reges Leben herrschte. Doch ein anderer Teil wünschte sich verzweifelt eine dramatische Veränderung, wozu auch gehören würde, Fentress weit hinter mir zu lassen. Was nützte es schon, wenn ein Mutant einer Zottelwicke nach mir benannt war, wenn ich mein ganzes Leben im Bezirk Caldwell verbringen würde, in den engen Grenzen von Lockhart und San Marcos, zwischen Pekannussbäumen und Baumwollfeldern? Großpapa hatte mir gesagt, ich könne mit meinem Leben machen, was immer ich wollte. An manchen Tagen glaubte ich ihm, an anderen nicht. Dieser düstere Abend, der letzte Tag des sterbenden Jahrhunderts, schien eher zu den Tagen zu gehören, an denen mir dieser Glaube fehlte. So vieles wollte ich in meinem Leben sehen, so vieles machen, doch wie viel von alldem war in meiner Reichweite? Ich schrieb eine Liste auf die letzte Seite meines Notizbuchs. Der rote Ledereinband hatte Knicke bekommen, die Grobschnittseiten waren mit der Zeit fleckig geworden. Mein Notizbuch, mein treuer Freund während der letzten sechs Monate. Ich legte es zur Seite, schlief ein und träumte, ich trieb auf einem Fluss dahin. Doch es war nicht mein eigener Fluss. Das Wasser war nicht blau, sondern blassgrün, und die Ufer waren seltsamerweise sandig.
    Um neun wurde ich davon wach, dass Viola auf ihren Gong schlug. Unten erwarteten uns mehrere Schüsseln mit gefährlich heißer Apple Brown Betty, einem Lieblingsnachtisch von uns Kindern, der aus gebackenen Äpfeln und knusprigen Brotkrumen bestand und an dem wir uns regelmäßig den Mund verbrannten. Jeder von uns bekam ein silbernes Knallbonbon. Wir zogen sie auf, und heraus kamen eine Papierkrone, ein Silvesterkracher und ein winziges Blechspielzeug. Sofort entwickelte sich unter uns Kindern ein lebhafter Tauschhandel für diese Geschenke. Danach saßen wir nur noch herum und warteten. Meine jüngeren Brüder, die noch nie so lange aufgeblieben waren, reagierten auf die allgemein gelockerte Disziplin, indem sie entweder durchs Treppenhaus polterten oder auf dem Teppich im Salon einschliefen.
    Ich aß eine Hälfte meiner Weihnachtsorange und ließ mir deutlich anmerken, wie gut sie mir schmeckte, was diejenigen ärgerte, die ihre schon vor Tagen gegessen hatten. Die zweite Hälfte sparte ich mir auf, um sie in einem anderen Jahrhundert zu essen. Ob eine Orange im Jahr 1900 wohl anders schmeckte als im Jahr 1899?
    Um zehn waren alle erschöpft und wären am liebsten ins Bett gegangen, doch wir waren fest entschlossen, bis zur magischen Stunde durchzuhalten. Um elf war es dann Zeit für
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