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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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unsere guten Vorsätze fürs neue Jahr. Mutter nahm die vom vergangenen Jahr aus der Bibel und las sie unter allgemeinem Gelächter vor, bevor sie sie ins Feuer warf. Der letzte meiner guten Vorsätze hatte gelautet, ich wolle Stopfen und Spinnen lernen. So lange war das her, Ewigkeiten – vor dem heißen Sommer, in dem mein Großvater und ich uns kennengelernt hatten.
    Wir bemühten uns, Jim Bowie zu erklären, was ein guter Vorsatz ist, aber er war einfach noch zu klein dafür. Also schrieb Mutter einen Vorsatz für ihn auf, nämlich dass er im kommenden Jahr das ABC lernen würde. Sul Ross beschloss, in Zukunft seine Hausaufgaben stets rechtzeitig zu machen, Travis nahm sich vor, mehr mit Jesse James zu spielen, was praktisch unmöglich war, da er die schlanke Katze ohnehin ständig in seinem Overall mit sich herumschleppte.
    Dann war ich an der Reihe. Ich stand auf, zog mein Notizbuch aus der Tasche und schlug die letzte Seite auf.
    »Es ist eigentlich kein richtiger Vorsatz, eher eine Art Liste.« Ich räusperte mich und las: »Folgendes will ich sehen, bevor ich sterbe: Nordlichter, Harry Houdini, den Pazifik oder auch den Atlantik, egal – einfach irgendeinen Ozean. Die Niagarafälle. Coney Island. Ein Känguru. Ein Schnabeltier. Den Eiffelturm. Den Grand Canyon. Schnee.«
    Ich setzte mich. Erst schwiegen alle, dann sagte Harry: »Ausgezeichnet, Kätzchen«, und fing an zu klatschen. Meine anderen Brüder machten mit. Der Applaus meiner Eltern war sehr verhalten. Das machte mich ein bisschen traurig.
    Lamar sagte: »Ich nehme mir vor, besser in Geometrie zu werden.« Er brachte jeden Tag Stunden damit zu, mit seinem neuen Winkelmesser durchs Haus zu rennen und sämtliche Ecken zu vermessen.
    Sam Houston sagte: »Da Lula Gates mich nicht ihre Bücher von der Schule nach Hause tragen lässt, habe ich mir vorgenommen, in Zukunft die von Effie Preston zu tragen, selbst wenn sie es nicht will. Das mache ich, ich schwöre es.« Daraufhin lachten alle.
    Schließlich war Harry an der Reihe, doch er schmunzelte nur und sagte: »Das ist ein Geheimnis«, worauf ein allgemeiner Aufschrei ertönte und alle sich beschwerten, das sei nicht fair.
    »Heraus damit, Harry, sonst gilt es nicht«, sagte ich. Schließlich gab er nach, damit er uns endlich los war. Mit einem Blick auf Mutter sagte er (mit etwas dünner Stimme, wie mir schien): »Ich nehme mir vor, so fleißig zu lernen, dass ich nächstes Jahr mein Studium an der Universität aufnehmen kann.«
    Mutter strahlte vor Glück, was natürlich auch Harrys Absicht gewesen war, aber ich spürte, er war nicht mit dem Herzen dabei, er wollte Mutter nur beruhigen. Die Tatsache, dass er uns seinen richtigen Vorsatz nicht verraten wollte, ließ mich stark annehmen, dass der etwas mit Fern Spitty zu tun hatte.
    Mutter hatte den Vorsatz gefasst, dafür zu sorgen, dass jedes ihrer Kinder wenigstens zweimal die Woche zur Kirche ging. Daraufhin entstand einige Unruhe, doch niemand hatte den Mumm, ihr ins Gesicht zu sagen, dass ihm das nicht passte.
    Vater nahm sich vor, das Tabakschnupfen aufzugeben. Da er es ohnehin nur im Büro tun durfte, hatte er beschlossen, dass die Qual, jeden Tag beim Betreten des Hauses damit aufzuhören, vom Vergnügen des Schnupfens während der Arbeit nicht aufgewogen wurde. Mutter sah entzückt aus und nippte wieder an ihrem perlenden Wein.
    Großpapa mussten wir erst eine Weile bearbeiten, doch er nahm es gut gelaunt hin. »Es würde ja ein trauriges Licht auf mein Leben werfen, wenn ich in meinem Alter noch gute Vorsätze fassen müsste. Allerdings … eine Sache wäre da …«
    Verblüfft durchforschte ich mein Gehirn. Ob es etwas mit unserem Mutanten zu tun hatte? Oder damit, dass er seinen Pekannuss-Whiskey perfektionieren wollte? Ich hatte wirklich keine Ahnung.
    »Ich würde gern in einem Automobil fahren«, sagte er. »Ich habe gehört, dass es in Austin eins gibt.«
    »Aber das sind schreckliche Maschinen!«, rief Mutter aus. »Und so unsicher! Sie können ohne jede Vorwarnung in die Luft fliegen, habe ich gehört, und viele Menschen sollen sich schon beim Drehen der Kurbel den Arm gebrochen haben.«
    »Stimmt.« Er hatte einen zufriedenen, geistesabwesenden Gesichtsausdruck. Man konnte meinen, sein Blick gehe in weite Ferne, doch ich wusste, er blickte weit voraus in die Zukunft.
    Danach gab es nichts mehr zu tun, als zu warten, dass die Zeit verging. Meine Eltern unterhielten sich leise, Großpapa rauchte seine Zigarren und las den National
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