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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Schnee. Das musste Schnee sein.
    Die Welt endete also gar nicht. Sie hatte soeben begonnen.
    Ich sah mich um und betrachtete die vertrauten Dinge in meinem Zimmer in diesem fremden Licht: das Kolibrinest in seinem Glas, mein rotes Notizbuch, meine Schmetterlinge im Rahmen.
    Ich schlüpfte in meine Kaninchenpantoffeln und zog meinen wollenen Morgenmantel übers Nachthemd. Ich machte einen Bogen um das knarrende Dielenbrett mitten im Zimmer und versuchte dann, die Tür möglichst leise zu öffnen, doch wegen der Kälte quietschte sie laut. Ich wartete ab, ob sich irgendwo jemand regen würde, doch zu meiner Erleichterung blieb es völlig still. Ich wollte allein sein. Ich wollte den Schnee ganz für mich allein.
    Auf Zehenspitzen schlich ich zur Haustür hinaus und trat auf die Veranda. Meinen Morgenmantel zog ich ganz fest zu. Die Temperatur erschreckte mich – wie war das möglich, so eine Kälte? Ich atmete tief ein, und die eisige Luft fuhr mir in die Brust wie ein Dolch. Ich atmete aus, und Wölkchen bildeten sich vor mir in der Luft, lösten sich aber schon auf, bevor ich nach ihnen greifen konnte. Kein Laut war zu hören außer dem leisen Hauch meines Atems und dem raschen Pochen meines Herzens. Kein einziger Vogel war am silbrigen Himmel zu sehen, kein Eichhörnchen in den Bäumen, kein Opossum weit und breit. Wo war es hin, alles Leben, von dem es sonst nur so wimmelte? Die Abwesenheit alles Lebendigen ließ die Landschaft schön und bedrohlich zugleich erscheinen.
    Während ich noch schaute, kam ein junger Kojote langsam zwischen den Bäumen hervor, vorsichtig hob er nacheinander die Pfoten und schüttelte sie, bevor er sie zögerlich wieder in den Schnee senkte. Auftreten, hochheben, abschütteln … auftreten, hochheben, abschütteln … So angewidert war seine Miene, dass ich lachen musste. Erschrocken sah er auf, und als er mich auf der Veranda erblickte, grinste er mich spöttisch an – wirklich, ich schwöre. Dann drehte er sich langsam auf der Stelle und verschwand, wie er gekommen war, zwischen den Bäumen. Er folgte der eigenen Spur und seinem eigenen Rhythmus: auftreten, hochheben, abschütteln.
    Also, wenn der Kojote in dem Zeug laufen konnte, dann konnte ich es auch. Ich trat auf die Stufen, selbst dort lag schon Schnee. Er war nicht fest wie Eis, sondern ganz luftig, und er war auch nicht lautlos, sondern knirschte unter meinen Schritten. Sofort hatte ich eiskalte Füße, ich rutschte aus und fiel fast hin, aber das war mir egal. Ich tastete mich die Stufen hinab, und als ich einen Blick über die Schulter warf, um meine Spuren zu betrachten, sah ich, dass sie ganz schnell zu flachen Pfützen in der Form meiner Füße wurden. Doch vor mir lag ein Bild vollkommener Schönheit. Konnte ich das wirklich tun? Konnte ich in diese Schönheit eindringen und sie verunstalten?
    Ich konnte es. Ich musste dieses Geschenk des Augenblicks, dieses großartige Geschenk des neuen Jahrhunderts noch einen Moment länger für mich allein haben, wenigstens ein paar Sekunden noch, bevor die anderen kamen und alles mit ihrem Lärm und ihrem Gerenne und ihren Spuren zerstörten. Ich hob mein Nachthemd ein Stück hoch, und dann rannte ich unsere gewundene Einfahrt hinunter, so schnell ich konnte, wankend und rutschend und voller Freude. Ich musste wie eine Irre aussehen, das wusste ich, aber es war mir gleich. Ich lief auf die Straße, auf der noch keine einzige Wagenspur zu sehen war, dann bog ich ab und rannte weiter zum unberührten Wäldchen, durch das es zum Fluss hinunterging. Die Äste eines Pekannussbaums bogen sich tief unter der Last des Schnees, und ihre orange-braune Rinde bildete die einzigen Farbflecke in der ansonsten einheitlich schwarz-weißen Landschaft. Ich entdeckte ein paar zittrige Spuren, die Vögel und andere kleine Tiere hinterlassen hatten. Sicher waren sie nicht weniger verwirrt von dieser stummen weißen Welt als ich. Natürlich – anders konnte es ja gar nicht sein: Es war Jahrzehnte her, dass zum letzten Mal Schnee gefallen war. Wenn aber ein Fink nur zwei Jahre lebte, wie konnte er dann das Wissen von etwas, das er selbst nie gesehen hatte, an die nächste Generation weitergeben? War das Wort für Schnee aus der Sprache der Finken, aus der Gesellschaft der Finken verschwunden? Wie konnte eine Spezies im Schnee überleben, wenn das Wort dafür ausgestorben war? Die Rasse der Finken, ebenso wie alle übrigen Rassen, traf dieses Wetter völlig unvorbereitet. Ich würde jede Menge
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