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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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ist) bezeichnet wird. Wir erlauben uns, Ihnen den Vorschlag zu unterbreiten, die Pflanze unter der Bezeichnung Vicia tateii zu führen. Dieses Vorgehen entspräche den üblichen Gebräuchen der Pflanzenkategorisierung. Es steht Ihnen jedoch frei, die Pflanze anders zu benennen. Die Smithsonian Institution gratuliert Ihnen zu Ihrem weitsichtigen Fund.
    In wissenschaftlicher Verbundenheit verbleiben wir
    Hochachtungsvoll
    Henry C. Larivee
    Vorsitzender des Komitees zur
    Klassifizierung von Pflanzen
     
    Sorgfältig faltete ich den Bogen, den ich auf meinem Schoß liegen hatte, und sah zu Großpapa hinüber. Reglos starrte er lange Zeit ins Leere. Ich spürte das dringende Bedürfnis, etwas zu sagen, wusste aber nicht, was. Es war völlig still im Raum. Weit weg heulte ein Hund. Das war Matilda, ich erkannte sie an ihrem einzigartigen Jodeln. Komisch, dass ich sie gerade in diesem Moment bemerkte. Näher, in der Küche, klapperte ein Topf. Der Holzrahmen des Insektengitters fiel knallend zu, gleich darauf rasten einige meiner Brüder durch die Halle. Eine klare, sehnsuchtsvolle Melodie klang vom Salon herüber, Harry war offenbar genötigt worden, für unsere Besucher auf dem Piano zu spielen. Die Musik holte meinen Großvater zurück von dort, wo er in Gedanken gewesen war, wo immer das gewesen sein mochte. Seine Miene war wehmütig, nachdenklich, traurig.
    »Ja«, sagte er schließlich.
    »Ja?« Etwas anderes fiel mir nicht ein.
    Nach kurzem Schweigen sagte er: »Das ist Chopin. Dieses Stück hat mir immer gefallen. Weißt du, Calpurnia …« Wieder schwieg er.
    »Ja, Großpapa?«
    »Weißt du …«
    »Ja, Großpapa?«
    »Dass ich das immer am liebsten gemocht habe, von seinem ganzen Werk.«
    »Nein, das wusste ich nicht.«
    »Man nennt es gemeinhin das ›Regentropfen-Prélude‹.«
    »Das wusste ich nicht.«
    Ich hörte, dass Viola auf der Veranda ihre Glocke läutete. Gleich würde der Gong am Fuß der Treppe ertönen.
    Großpapa kümmerte sich nicht um die Glocke. »Die einzig wirklich wichtige Frage ist: Womit verbringen wir die knappe Zeit, die uns gegeben ist?«
    Ich frage mich, ob wir irgendwann über das Telegramm sprechen würden. Ich wollte nicht, dass der Gong durchs Haus hallte. Was bedeutete schon das Essen, das Essen konnte warten. Wenn es mit rechten Dingen zuging, dann müssten wir hier sitzen dürfen, solange wir wollten. Ich sah mich in der Bibliothek um, sah die Bücher, das Gürteltier, das Tier in der Flasche.
    »Großpapa?«
    »Ja?«
    »Was ist nun mit dem Telegramm?«
    »Was soll damit sein?«
    »Na ja …« Viola schlug auf den Gong. Was für ein aufdringlicher, grässlicher Ton!
    »Hast du irgendeine Frage dazu?«
    »Nein«, sagte ich stockend. »Ich glaube nicht.«
    »Hast du je Zweifel gehabt?«
    »Vermutlich nicht, aber …«
    »Sieh mal, es gibt so viel zu lernen, und die Zeit, die uns gegeben ist, ist so kurz. Ich bin ein alter Mann. Ich hatte geglaubt, ich würde es nicht mehr erleben.«
    Ich stand auf und ging zu ihm hinüber. Ich wollte ihm das Telegramm reichen, doch er sagte: »Behalte es. Bewahre es in deinem Notizbuch auf.«
    Ich steckte es ein und legte die Arme um Großpapa. Er zog mich an sich und gab mir einen Kuss, und so standen wir eine Weile aneinandergelehnt, bis das Unvermeidliche geschah und jemand an die Tür klopfte.
     
    Ich hatte ein Fest erwartet. Luftschlangen und Kuchen und Konfetti. Dass unsere Familie uns hochheben und im Triumphzug herumtragen würde. Doch Großpapa sagte während des ganzen Abendessens kein einziges Wort, und ich fühlte mich die ganze Zeit völlig leblos. Was war nur mit mir los? Wieso fühlte ich mich so matt an diesem Tag, der doch der glücklichste in meinem Leben und in dem meines Großvaters sein sollte? Während des ganzen Abendessens sah Mutter immer wieder verstohlen zu Großpapa hinüber und nickte ihm mit einem aufmunternden Lächeln zu, sobald er aufschaute. Sie wollte ihm jede Möglichkeit geben, sich zu diesem sicher einmaligen Telegramm zu äußern, doch er zog es vor, sich dem Essen auf seinem Teller zu widmen. Auch meine Brüder waren auffällig unruhig und schauten immer wieder zu Großpapa hinüber – auch sie spürten, dass etwas in der Luft lag.
    Also beendeten wir unser Abendessen. Erst als SanJuanna den Nachtisch abräumte, stand Großpapa auf, ging zur Anrichte und goss sich ein gut bemessenes Glas Portwein ein. Er hielt es in der Hand, bis es am Tisch ganz still wurde und alle Blicke auf ihm ruhten. Der Wein funkelte
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