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Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen

Titel: Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Autoren: Donna Leon
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Prompt bereute Brunetti seine Entscheidung und wollte dem Davoneilenden schon nachrufen: »Caffè doppio, con due zuccheri, per piacere«, aber er scheute sich, die Stille zu durchbrechen. Als Marvilli durch die Schwingtür am Ende des Korridors verschwunden war, ging Brunetti zu einer Reihe orangefarbener Plastikstühle, setzte sich und wartete darauf, daß jemand aus Pedrollis Zimmer kam.

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    B runetti nutzte die Wartezeit dafür, seine Gedanken zu ordnen. Wenn man um drei Uhr morgens den leitenden Oberarzt der Neurologie herbeordert hatte, dann mußte es schlimm stehen um diesen Dottor Pedrolli, auch wenn Marvilli sich alle Mühe gab, die Sache herunterzuspielen. Brunetti verstand nicht, warum die Carabinieri mit so massiver Gewalt vorgegangen waren. Aber es konnte natürlich sein, daß ein Hauptmann, der nicht zur Einsatztruppe gehörte, die Operation nicht so gut im Griff hatte wie ein Offizier, der mit seinen Männern vertraut war. Kein Wunder, daß Marvilli so nervös wirkte.
    Ob dieser Dottor Pedrolli über seine Privataffäre hinaus in Adoptionsgeschäfte verwickelt war? Schließlich hatte er als Pädiater Zugang zu Kindern und, durch sie, zu den Eltern, vielleicht auch zu solchen, die sich erfolglos um mehr Nachwuchs bemühten, oder gar zu denen, die man dazu bewegen konnte, sich von einem ungewollten Kind zu trennen.
    Ferner könnte Pedrolli Kontakt zu Waisenhäusern unterhalten: Deren Insassen bedurften ärztlicher Betreuung gewiß mindestens ebenso wie Kinder, die daheim in der eigenen Familie aufwuchsen. Brunetti wußte, daß Vianello mit Waisen großgeworden war: Seine Mutter hatte die Kinder einer Freundin aufgenommen, allerdings gerade, um sie vor dem Heim, jenem Schreckbild seiner Elterngeneration, zu bewahren. Inzwischen herrschten, dank der regen Tätigkeit von Sozialdiensten und Kinderpsychologen, sicher andere Verhältnisse. Auch wenn Brunetti sich eingestehen mußte, daß er keine Ahnung hatte, wie viele Waisenhäuser es in Italien noch gab und wo.
    Unwillkürlich dachte er zurück an seine ersten Ehejahre mit Paola. Damals hielt sie an der Universität ein Seminar über Dickens, und mit dem Enthusiasmus des Jungvermählten hatte er die Romane gemeinsam mit ihr gelesen. Schaudernd erinnerte er sich an das Waisenhaus, in dem Oliver Twist gequält wurde, doch dann fiel ihm jene Stelle aus Große Erwartungen ein, die ihm seinerzeit das Blut in den Adern gefrieren ließ, nämlich Mrs. Joes Leitspruch, Kinder gehörten »von Hand aufgezogen«, eine Formulierung, die weder er noch Paola zu deuten wußten, die sie aber gleichwohl beide verstört hatte.
    Charles Dickens hatte allerdings vor zweihundert Jahren geschrieben, als es, nach heutigen Maßstäben, noch richtige Großfamilien gab: Selbst Brunettis Eltern hatten noch je sechs Geschwister gehabt. Wurden die Kinder heute besser umsorgt, weil sie inzwischen Mangelware sind?
    Inmitten dieser Gedanken tippte sich der Commissario plötzlich mit den Fingern seiner rechten Hand an die Stirn: Gegen Dottor Pedrolli war keine offizielle Anklage erhoben worden, Brunetti hatte keine Beweismittel zu Gesicht bekommen, und doch ging er, nur auf das Wort eines Hauptmanns in Reitstiefeln hin, von der Schuld des Mannes aus!
    Hier wurde der Commissario in seinen Betrachtungen unterbrochen: Vianello kam mit langen Schritten den Korridor entlang und setzte sich zu ihm. »Bin ich froh, daß du da bist«, sagte der Inspektor nur.
    »Was ist hier eigentlich los?« fragte Brunetti, nicht minder erleichtert über die Anwesenheit seines Kollegen.
    Mit gedämpfter Stimme begann Vianello, die Situation zu erklären. »Riverre und ich, wir hatten Nachtdienst, als der Anruf kam. Zuerst wurde ich nicht schlau daraus.« Er versuchte vergebens, ein Gähnen zu unterdrücken.
    Der Inspektor stützte die Ellbogen auf die Knie, schob den Oberkörper nach vorn und wandte sich Brunetti zu. »Eine Frau rief an und behauptete, vor einem Haus in San Marco hätten sich bewaffnete Männer versammelt. In der Calle Venier, sagte sie, um die Ecke vom La Fenice, nicht weit von den alten Kassenräumen der Carive-Bank. Wir haben eine Streife hingeschickt, aber als die dort eintraf, waren die Männer schon fort, und aus einem Fenster rief irgend jemand unseren Leuten zu, es seien die Carabinieri gewesen und es habe einen Verletzten gegeben, den sie ins Krankenhaus geschafft hätten.«
    Vianello vergewisserte sich mit einem Seitenblick, daß Brunetti ihm zuhörte, dann fuhr er fort. »Es waren die
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