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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Mensch , ja, ein Mensch , obwohl auch er das Antlitz – wenn man so sagen kann – der hiesigen Riesenkrebse trug. Seine Augen waren anders als die der sonstigen Riesen. Ich vermutete sofort – und wohl richtig –, daß es sich bei ihm um einen höheren Mandarin und Richter handelte. Zunächst schien auch er ratlos über meine Erscheinung zu sein. Ich kann mir nicht helfen: wenn zu uns, ich meine in unsere Zeit, in die Regierungszeit unseres Glorwürdigen Und Gnädigen Kaisers Und Sohnes Des Himmels ein Mann aus – sagen wir – der Regierungszeit der Dynastie Shang 6
› Hinweis
käme, so erschiene uns dieser Mensch nicht fremder und eigenartiger als ein Gast etwa aus den fernen westlichen Provinzen, wo sie ja auch eine etwas unterschiedliche Sprache und merkwürdige Sitten haben. Hier aber bin ich so fremd wie ein seltenes Tier – nein: wie ein eigenartiger Stein. Wir kennen die Kaiser und die Dichter unserer fernsten Vergangenheit. Die heute hier wissen von uns nichts. Mir scheint, sie kennen sie nicht nur nicht, sie wissen gar nicht, daß sie eine Vergangenheit haben. Ich begreife nicht, wie sich in den tausend Jahren so ein verheerender Spalt zwischen unseren Enkeln und uns, ihren Ahnen, auftun konnte. Aber vielleicht sind die Leute wirklich fremder Rasse – Eindringlinge, Eroberer, die unsere Nachkommen verdrängt haben und vernichtet. Oder sollten wir uns bei unseren Reisevorbereitungen verrechnet haben? Bin ich statt tausend Jahre zehntausend Jahre in die Zukunft gereist? Das würde manches erklären.
    Ob die Leute ohne Vergangenheit glücklicher oder unglücklicher sind als wir, muß ich erst herausfinden. Freilich kann das Wissen um die Vergangenheit auch wie eine Last sein. Ich kann nur nicht begreifen, daß es eine Rasse geben soll, die einfach in den Tag hineinlebt, ohne sich der Namen ihrer Ahnen bewußt zu sein.
    Der Richter oder Hofbeamte, dem ich also vorgeführt wurde, versuchte auch, sich mit mir zu verständigen, natürlich vergeblich. Ich deutete ein paar Mal auf mich – unter einer Drei-Achtel-Verbeugung, ich schätzte den Hofbeamten auf einen Kwan höchstens vom Rang B3 – und sagte: »Kao-tai.« Ganz langsam und deutlich: »Kao-tai.« Er verstand, lächelte und schrieb meinen Namen auf ein Papier, das vor ihm lag. (Sie schreiben in gänzlich unverständlicher Schrift, lächerlicherweise in waagerechten Zeilen von links nach rechts.) Danach ließ er mich zu meiner grenzenlosen Enttäuschung wieder zurück in die Zelle führen. Bis dahin überwog in meinen Gefühlen trotz allem die Neugier. Als aber der Schließer die Zellentür auf ein neues hinter mir schloß, erfaßte mich die Verzweiflung. Wohl nie war ein Mensch so allein wie ich. Tausend Jahre weit aus meiner Welt hinausgestoßen, hilflos in einem Chaos von Unverstand. Würde ich je den Kontaktpunkt wiederfinden? Nein, sicher nicht ohne fremde Hilfe. Ich wußte nicht einmal, wie weit ich mit dem A-tao-Wagen verbracht wurde … Wer sagte mir, daß es nicht tausend Li waren? Ich war ja bewußtlos auf der Fahrt. Der Kontaktpunkt, der einzige Zusammenhang mit meiner Zeit-Heimat, schien mir damals im Gefängnis für immer verloren. Gut, es sind noch acht Monate Zeit – aber wie soll ich selbst in acht Monaten jemals in diesem Chaos, von aller Hilfe abgeschnitten, in einer Lärmwelt von Riesenkrebsen und Großnasen, in einer Welt, die mich nicht versteht, jene kleine Brücke wiederfinden? Ich war verzweifelt. Ich sah mich schon – selbst wenn ich aus dem Gefängnis entlassen würde – durch diese unordentliche Welt irren und vergeblich die Brücke suchen … und den Zeitpunkt der Rückkehr versäumen … und ich wäre ausgestoßen in diese Nebelwelt, endgültig und unwiederbringlich abgeschnitten von meiner Heimat, und alle, Du, meine Kinder, meine geliebte Shiao-shiao … tot seit tausend Jahren und – entschuldige – verwest und sogar ihr Andenken verweht.
    Ich saß völlig verstört und wie auf einer geländerlosen Brücke über einem Abgrund in meiner Zelle und dachte an die Verse unseres großen Lin Tsung-yüan – den sie hier gewiß auch nicht mehr kennen:
    »Wenn du nach Norden ziehst,
    Frühling, wann kommst du nach Tsin?
    Nimm meinen Traum dorthin.
    Trag in den alten Garten
    Den Traum, daß ich zu Hause bin.«
    Aber was hält das Menschenherz nicht alles aus. Ich schlief zwei Stunden oder wohl auch drei, dann öffnete sich die Zellentür, und herein trat zu meiner Überraschung jener Richter und Mandarin, in dem ich
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