Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
Vom Netzwerk:
Gesicht machte sich Ratlosigkeit bemerkbar. Ich mußte mich auf eine schmutzige Holzbank setzen. Die Reisetasche stellte man – als offenbar ungefährlich – neben mich hin. Unzählige Schergen kamen, scheinbar beiläufig, in den Raum, um mich anzustarren. Ich mußte, trotz meiner demütigenden Lage, lachen. Peinlich war es mir aber doch.
    Nach einiger Zeit kam der Ober-Scherge mit einem zurück, der keine Schergen-Tracht trug. Dieser – ich glaube, es war ein Weib – versuchte ebenfalls, mit mir zu sprechen. Ich verstand zwar, daß sie einen Dolmetscher geholt hatten, allein, ich verstand auch die Sprache, in der der Weib-Dolmetscher redete, nicht. Ich merkte überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Idiom, in dem sie mich vorher angeredet hatten, und dem, das der Dolmetscher sprach. Im Lauf der Zeit holten sie nacheinander wohl an die zehn Dolmetscher. Anfangs hatte ich die leise Hoffnung, daß einer dabei sein könnte, der unsere Sprache verstünde. Ich begrub diese Hoffnung bald – der Ober-Scherge, wie mir schien, auch.
    Eine Zeitspanne für das alles kann ich nicht angeben. Aber es war, nachdem vier Dolmetscher vergeblich mit mir ihr Glück versucht hatten, da brachte mir – es war sicher freundlich gemeint – ein Unter-Scherge einen Teller aus gewalztem Eisen, in dem einige Dinge waren, die ich nach längerem Hinsehen für als eßbar gedacht zu erkennen meinte. Er drückte mir auch ein Gerät in die Hand – inzwischen habe ich solche Geräte kennengelernt, davon später –, das auch aus gewalztem Eisen war. Das Gerät heißt Gan-bal. Wohlweislich fassen sie hier ihre Speisen nicht mit den Händen an, sondern führen sie mit solchen Gan-bal-Geräten zum Mund. Ich hatte vor Aufregung und Schrecken nicht den geringsten Hunger, auch ekelte es mich vor dem hellgrauen, körnigen Brei (ganz entfernt unserem Reis ähnlich), auf dem einige schwärzliche Stücke lagen, die bei näherem Hinsehen als Fleisch kenntlich waren. Eine rote, dickflüssige Masse war darüber gegossen. Ich sagte mir: ich bin nicht in die Zukunft gereist, um mich zu ekeln, sondern um Erfahrungen zu sammeln und zu beobachten. Also aß ich von dem Brei. Er schmeckte hauptsächlich nach Salz und war sehr heiß. Inzwischen habe ich erfahren, daß »hier« – selbst unter gebildeten Leuten – die Sucht herrscht, fast alles brühheiß zu essen. Auch deswegen müssen sie Gan-bal verwenden. Bei normalem Essen mit den Händen, wie wir es gewohnt sind, würden sie sich die Finger verbrennen. – Das Fleisch schmeckte nach Leder.
    Ich aß ein wenig, und dann, nachdem ich glaubte, für diesen Fall Erfahrung genug gesammelt zu haben, gab ich mit einer Achtel-Verbeugung – der Ober-Scherge steht ja zweifellos im Rang weit unter mir – den Teller aus gewalztem Eisen und den Gan-bal zurück. Als ich durch Gesten andeutete, daß ich Durst habe, brachte man mir ein Gefäß aus Glas mit einer ekelhaften weißen Flüssigkeit, von der ich jetzt weiß, daß es nichts anderes als Rindsmilch ist. Ja: Milch von Rindern. Mir wurde schlecht, als ich nur daran roch, und meinte im ersten Augenblick, man wolle mich vergiften. Kopfschüttelnd nahm der großnasige Scherge seine Rindsmilch wieder mit und brachte mir ein Gefäß mit einem sheng 4
› Hinweis
Wasser, das ich trank. Das Wasser war gut.
    Als der zehnte Dolmetscher kam, war mir, als ginge nach einer düsteren Sturmnacht die Sonne auf: dieser Dolmetscher trug ein Menschengesicht. Er war, obgleich immer noch größer als ich, nicht ganz so riesenhaft wie alle anderen hier. Aber meine Enttäuschung war groß: auch er konnte mich nicht verstehen. Ich glaube, er war ein Bewohner der Südlichen Inseln 5
› Hinweis
. Sollten sich dort die Menschen nicht so sehr verändert haben wie in unserer unglücklichen Hauptstadt?
    Oder wo bin ich? Vielleicht werde ich die Gelegenheit haben, es zu erforschen. Die Sprache aber ist bis zur Unverständlichkeit entartet. Auch die Schriftzeichen, die ich aufschrieb, konnte er nicht lesen.
    Inzwischen war es Abend geworden. Man sperrte mich – ja, lieber, treuer Dji-gu – man sperrte Deinen Freund Kao-tai, Kwan der vierthöchsten Rangstufe und Präfekt der Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« in eine Gefängniszelle. Es regte mich schon nicht mehr auf. Vorher mußte ich einige wohl rituelle Zeremonien über mich ergehen lassen. Ich mußte meine Finger in schwarze Tusche tauchen und dann ein Papier berühren. Vermutlich Dämonen-Abwehr. Dann kam ich in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher