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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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kann. In der Kenntnis der hiesigen Sprache bin ich noch nicht so weit vorgedrungen, daß ich so etwas Kompliziertes fragen könnte. Ich glaube zwar nicht, daß Herr Shi-shmi einen höheren Rang einnimmt als ich, und meine Verbeugungen erwidert er immer exakt in gleicher Weise, ich wüßte es aber doch gern. Ich hoffe, daß er nicht allzu tief unter mir steht.
    Aber, so denke ich mir, er hat mir soviel geholfen, ist mir so nützlich: ja, ohne ihn wüßte ich nicht, was anfangen, daß ich ihn, selbst wenn er ein Hofbeamter der 18. Rangklasse wäre und schon das siebte und letzte Mal bei der Dichterprüfung der Akademie durchgefallen, hochachten und lieben würde. In der Situation, in der ich bin, neigt man zu der Meinung, daß Rang und Dichterprüfung nicht das wichtigste Kriterium für die Bewertung des Menschen sind.
    Aber ich bin mit der Beschreibung der Kleidung, des An-tsu noch längst nicht am Ende. Über Hose, Dünn-Jacke und Rangstreifen zieht man eine dickere Jacke an. Die Füße steckt man in kleine, verschnürte Kästchen aus entsetzlich hartem Leder, in denen man kaum gehen kann. Über dem Ganzen trägt man hie und da – wenn es am Abend kühler wird, und das ist hier selbst im Sommer der Fall – eine etwas längere, ebenfalls graue Jacke, die wohl einen Mantel vorstellen soll. Hat man das alles an, kommt man sich vor wie ein Wickelkind und kann sich kaum bewegen. Die Hände in unserer gewohnten Weise in die Ärmel zu stecken ist völlig ausgeschlossen. Die Leute stecken hier die Hände in die Taschen, die an der Kleidung an den überraschendsten Stellen in Vielzahl vorhanden sind. In noch größerer Zahl aber, in geradezu lächerlicher Menge finden sich Knöpfe am An-tsu. Eine Reihe kleiner Knöpfe befindet sich direkt am Geschlechtsteil. Ich nehme deshalb an, daß es sich hier um einen Fruchtbarkeitszauber handelt.
    So laufe ich also draußen herum. Ich lasse es über mich ergehen, weil ich ja – der ich beobachten will – nicht ständig Gegenstand allseitigen Bestaunens sein mag. Ich falle auch in dem An-tsu noch genügend auf.
    Bevor ich aber nun in der Schilderung der Erlebnisse meines ersten Tages hier fortfahre, habe ich Dir für Deinen liebenswürdigen, wenngleich kurzen Brief zu danken. Ich fand ihn wohlbehalten am Kontaktpunkt. Das angekündigte Silberschiffchen war allerdings nicht eingeschlossen. Nur unser spezielles Zeitwander-Papier vermag offenbar die tausend Jahre zu durcheilen. Laß also das mit dem Silberschiffchen in Zukunft … (merkwürdig: wenn ich so weit in die Vergangenheit zurück von »Zukunft« schreibe) … ich brauche es auch gar nicht. Ich habe erst eines der fünfzig, die ich bei mir habe, ausgegeben. Herr Shi-shmi hat es in hier gültige Währung umgetauscht. (Ich vertraue ihm da völlig.) Er hat dafür einen An-tsu und einen Haufen anderer Sachen für mich gekauft und angedeutet – wenn ich seine Gesten richtig verstehe –, daß noch viel Geld übriggeblieben ist. Was ich in absehbarer Zeit brauche, ist Zeitwander-Papier, denn meine Briefe an Dich sind doch ziemlich lang, und mein Vorrat geht zur Neige. Schicke mir also das nächste Mal ein Paket leeres Papier mit.
    Im Übrigen freut es mich, daß meine herzige Shiao-shiao wohlauf ist. Daß sie Sehnsucht nach mir hat, schmeichelt mir. Ich habe auch Sehnsucht nach ihr. Ich hätte sie gern auf meine Zeit-Reise mitgenommen; aber es ist besser so. Die Welt »hier« wäre nichts für ihre empfindliche Seele. –
    Aber nun fahre ich fort in meinem Bericht: ich wachte in meiner Gefängniszelle davon auf, daß ein mürrischer, aber nicht bösartiger Schließer die Tür öffnete und mir das Frühstück auf einem nahezu schon grotesk kunstlosen Tablett brachte. Nachdem ich ein wenig von einer dunkelbraunen Masse, die offenbar aus schlecht gebackenem und äußerst salzhaltigem Teig bestand, gegessen hatte (die beigegebene Flüssigkeit, die sehr heiß war und mehr als fremdartig roch, rührte ich zur Vorsicht nicht an), kam der Schließer wieder. Er winkte mit dem Schlüsselbund. Ich ordnete meine Kleider und folgte ihm. Er führte mich durch lange, lärmreiche und schmutzige Gänge, in denen der ranzige Geruch unsereinem längeren Aufenthalt unmöglich gemacht hätte. Den Leuten hier macht aber der Gestank nichts aus. Auch das wäre ein Kapitel für einen eigenen Brief. Selbst Herr Shi-shmi hat offenbar von der Erfindung der Räucherstäbchen noch nie etwas gehört.
    Man führte mich in ein etwas größeres Zimmer. Dort saß ein
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