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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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halbwegs einen Menschen zu erkennen glaubte. Er hatte meinen Namen behalten und sagte: »Hel Kao-tai!« Die Vorsilbe »Hel« ist hier eine Anrede in höflicher Form. Ich machte deshalb wieder eine Drei-Achtel-Verbeugung und sagte: »O du gütiger, vom Himmel gesandter Hel-Richter und Mandarin, ich unwürdiger Staubwurm danke dir für deine freundliche Anrede. Der Himmel möge deine Ahnen segnen, unter denen möglicherweise ich selber bin.« Er verstand das natürlich nicht, ahnte aber vielleicht den Sinn meiner Rede und klopfte mir mit der Hand dreimal leicht auf die Schulter. Vermutlich war das eine Reinigungszeremonie. Ich verbeugte mich, und er deutete mit der Hand auf die offene Zellentür. Ich verstand, daß ich frei war.
    Soweit der Brief für heute. Meine eigentlichen Abenteuer, das spüre ich, beginnen erst. Herr Shi-shmi steht neben mir, seit ich eben das Gedicht geschrieben habe, und wartet. Er weiß, daß ich heute wieder einen Brief zum Kontaktpunkt bringen will. Herr Shi-shmi ist sehr rücksichtsvoll, und ich glaube, er ahnt von der Bewandtnis, die es mit mir hat.
    Bis jetzt bin ich noch nie allein ausgegangen. Herr Shi-shmi hat mich stets begleitet, denn ich habe immer noch Angst vor den A-tao-Wagen, und dann sind es doch drei Li von hier zur Brücke. Aber verirren könnte ich mich nicht mehr. Um meine Rückkehr bange ich nicht.
    Ich grüße Dich, überaus liebenswerter Dji-gu; und schreib mir bald einen etwas längeren Brief.
    Kao-tai

Sechster Brief
    (Sonntag, 28. Juli)
    Liebster Freund.
    Ich bedaure überhaupt nicht mehr, daß ich diese Reise unternommen habe, obwohl ich mich nach wie vor nach den Gesprächen mit Dir in abendlicher Dämmerung in Deinem oder in meinem Park und nach den unbeschreiblichen Liebkosungen meiner einzigen Shiao-shiao sehne. Für Deinen sehr bündigen und in seiner Prägnanz äußerst kunstvoll zu nennenden Brief danke ich Dir von Herzen; dennoch hätte ich auch gern gewußt, ob meine schwangere Konkubine Fa-fo ihr Kind inzwischen bekommen hat, ob das schwarze Fohlen wieder gesund ist und ob meine Vierte Schwiegermutter Ta-chiang noch lebt, die am Tag vor meiner Abreise sterbenskrank geworden ist. Hat meine Hauptfrau noch ihr Furunkel? Auch schreibst Du nur sehr wenig von Shiao-shiao … aber immerhin weiß ich aus Deinem Brief, daß es ihr gutgeht.
    Ich bedaure meine Zeit-Reise nicht mehr. Ich bin sogar fast geneigt – entgegen meinen trüben Gedanken in den ersten Tagen – zu sagen: es ist herrlich. Ich genieße eine neue Jugend. Was ein junger Mensch im Lauf von zwanzig Jahren erlebt, nämlich das Entfalten der Welt vor ihm, eröffnet sich hier für mich in ungleich kürzerer Frist, und dazu noch bei wachem Verstand, der nichts als eine Selbstverständlichkeit hinnimmt. Ich schaue wie ein Kind und staune, aber ich weiß , daß ich staune. Es ist herrlich … und das, obwohl es schon seit vorgestern regnet. Herr Shi-shmi und ich standen heute früh am Fenster und schauten hinaus. Herr Shi-shmi ist ganz trübsinnig. Er sagte: »Shai-we-ta«, was offenbar soviel wie »langandauernder Regen« bedeutet.
    Für unsere dumpfen Enkel – mit Ausnahme von gebildeten und sensiblen Leuten wie Herrn Shi-shmi – ist das »Shai-we-ta« kaum bedrückend. Sie spannen ihre Schirme auf und rennen im Regen herum. Die A-tao-Wagen, in die es natürlich nicht hineinregnet, weil sie ja rundum aus Eisen sind, rasen wie immer und spritzen Wasserfontänen um sich, wenn sie durch eine Pfütze fahren. Niemand tut etwas dagegen – es sind wohl doch die Mächtigen, die sich in solchen A-tao fortbewegen. Der Schirm scheint die einzige unserer Errungenschaften zu sein, die auf unsere Enkel gekommen ist. An den Schirmen erkennt man mühelos Männer und Weiber auseinander, die Weiber tragen nämlich verschiedenfarbige Schirme, die Männer ausschließlich schwarze. Warum das so ist, weiß ich natürlich nicht, ebensowenig ob die Farben der Weiberschirme irgendwelche Rangstufen anzeigen. Trägt eine Frau oder Konkubine den Schirm in der Farbe des Stoff-Streifens (der, das habe ich inzwischen herausgebracht, »Kwei-te« heißt) des Mannes, dem sie gehört? Herr Shi-shmi hat selbstverständlich einen schwarzen Schirm, eine Frau hat er nicht.
    Heute vormittags ging ich zum ersten Mal allein aus dem Haus. Herr Shi-shmi meinte (wir können uns jetzt schon recht gut verständigen), daß es an der Zeit sei, damit anzufangen. Er schickte mich in ein anderes Haus, in dem eine Person einen Laden betreibt. (Ich
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