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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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einen Raum, in dem ein Scherge mit einem unverständlichen Gerät hantierte, das kleine Blitze von sich gab. Ich mußte mich auf einen bestimmten Hocker setzen, einmal geradeaus, einmal links, einmal rechts schauen. Jedesmal blitzte es im Kasten, es geschah mir aber nichts. Vielleicht handelte es sich um einen Reinigungszauber. Zur Vorsicht verbeugte ich mich vor dem Blitz-Kästchen dreimal mit einer Zwei-Drittel-Verbeugung. Wenn sie schon so abergläubisch sind, dachte ich mir, muß ich ihrem Aberglauben diese Ehre antun. In der Zelle war es sehr ungemütlich, auch kalt und schmutzig, und es roch ranzig. Dennoch legte ich mich auf eins der Holzbetten und deckte mich mit einer groben, braunen Decke zu. Ich schlief ein – nicht ohne vorher mit einem Seufzer an Dich, mein Freund, an meine geliebte, süße Shiao-shiao (die so oft mein Lager teilt) und an meine blauseidenen Kissen daheim zu denken und an die safranfarbene Decke, die meine Träume beschützt. So verbrachte ich die erste Nacht in dieser fernen Zeit im Gefängnis. Je nun – auch das ist eine Erfahrung. Möglicherweise war dies die schlimmste Demütigung, die mir auf dieser Reise zugedacht ist. Und dann ist es vielleicht gut, daß ich sie gleich am Anfang erfahren habe. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß ich auch gute und nützliche Erfahrungen hier machen kann, obwohl ich manchmal verzweifle: in diesem Nebelloch an Zukunft. Nebelloch – ja: obwohl leidlich schönes Wetter herrscht, komme ich mir vor, als ginge ich durch grauen Nebel. Ob er sich jemals verzieht?
    Nun habe ich den ganzen Vormittag geschrieben. Eben kommt Herr Shi-shmi zur Tür herein. Er bedeutet mir, ich solle mit ihm kommen. Wahrscheinlich werden wir gehen, um das einzunehmen, was sie hier unter einer Mahlzeit verstehen. Danach werde ich zum Kontaktpunkt gehen – es ist die rechte Zeit – und diesen Brief niederlegen und auf die Reise tausend Jahre zurück schicken. Vielleicht finde ich heute einen Brief von Dir vor.
    Ich denke an unsere schöne Vergangenheit und an Dich, mein liebster Dji-gu.
    Kao-tai

Fünfter Brief
    (Dienstag, 23. Juli)
    Geliebter Freund Dji-gu.
    Ich sitze wieder in einem Zimmer von Herrn Shi-shmis Haus, das kein eigentliches Haus ist, davon aber später. Drei Tage sind seit meinem letzten Brief vergangen. Vorerst werde ich bei Herrn Shi-shmi bleiben, den der Himmel segnen möge, er ist – obwohl er nicht so aussieht – ein Mensch. Ich verstehe mich von Tag zu Tag besser mit ihm. Er hat mir eins seiner Zimmer eingeräumt. In ihm fühle ich mich, obwohl es für unsere Begriffe so klein ist wie die Bude eines Bettlers, schon einigermaßen heimisch, vor allem deswegen, weil ich hier meine gewohnten Kleider trage, während ich draußen in einer dieser scheußlichen grauen Schlauch-Häute herumlaufen muß, die sie An-tsu nennen. Diese qualvolle An-tsu-Kleidung besteht aus einer komplizierten Vielfalt von Einzelteilen. Einige weiße Schläuche trägt man darunter, zwei schwarze Schläuche an den Füßen, dann kommt eine graue Hose, dann eine dünne Jacke mit unzähligen Knöpfen. Diese Dünn-Jacke (sie heißt – ich habe das aber möglicherweise nicht richtig verstanden – »Hem-hem«) stopft man in die Hose hinein. Der an sich schon unbequeme Kragen dieser dünnen Hem-hem-Jacke wird noch dadurch eingeengt, daß ein Streifen Stoffes, dessen Funktion nicht ohne weiteres klar ist, darum gebunden wird. Der Stoff-Streifen muß auf bestimmte Länge vorn herunterhängen. Viele Männer tragen solche Stoff-Streifen, ja, ich muß gestehen: nur an so einem Stoff-Streifen erkenne ich – vorerst –, daß es sich um einen Mann handelt, mit dem ich es zu tun habe, denn Weiber tragen solche Stoff-Streifen nicht. Es gibt solche Stoff-Streifen in verschiedenen Farben. Der, den Herr Shi-shmi mir gegeben hat, ist rot. Er selber trägt einen blauen. Das Binden des Stoff-Streifens ist eine ungeheuer komplizierte Sache. Ich beherrsche es noch nicht; Herr Shi-shmi muß mir immer helfen. Da ich keinerlei Funktion der Stoff-Streifen erkennen kann, nehme ich an, daß es sich um Rangabzeichen handelt. Ich hoffe, daß der rote Stoff-Streifen einigermaßen meiner Würde als Mandarin der vierthöchsten Rangklasse und Präfekt der Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« entspricht. Bezeichnet etwa der blaue Streifen, den Herr Shi-shmi sich umbindet, einen niedrigen Rang? Es verwirrt mich, daß ich die Rangordnung nicht kenne und somit mein Verhalten nicht richtig bemessen
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