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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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mich nicht nur frei, er nahm mich sogar mit zunächst zu seinem A-tao-Wagen, nachdem er dafür gesorgt hatte, daß ich meine Reisetasche wieder bekam. (Ich schaute sofort darin nach: sowohl der Zeit-Kompaß als auch die Silberschiffchen und das Zeit-Reise-Papier waren noch vollzählig. Ehrlich scheinen die Schergen also immerhin zu sein.) Wir fuhren – ich wurde wiederum zeitweise bewußtlos – zu dem Haus des Richters. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß er, der ja immerhin im Rahmen der hier herrschenden Barbarei ein gebildeter Mensch ist, etwas von meinem Rang ahnte. Ich war kein Gefangener mehr, das war klar zu erkennen, ich war sein Gast. Wenn Du aber nun glaubst, das Haus des Richters sei im Entferntesten so wie die Häuser unserer hochstehenden Mandarine, so irrst du. Nehmen wir an, dieser freundliche Richter habe etwa den Rang meines Vetter-Sohnes Ch’ang-wang, der noch am Anfang seiner Laufbahn steht und erst Mandarin des Ranges A9 ist. Ch’ang-wang hat, wenn ich mich recht erinnere, eine Hauptfrau, drei Nebenfrauen, sechs Konkubinen und vielleicht 20 oder 30 Diener und einen hübschen, wenngleich bescheidenen Palast. Dieser Mandarin hier hat eine einzige Frau, keine Konkubine, und von Dienern habe ich weit und breit nichts gesehen. (Herr Shi-shmi hat, wie schon erwähnt, weder Frau noch Konkubine. Sehr merkwürdig. Dabei ist er weder Bettler noch Mönch, noch Säufer.) Das Haus des Richters war zwar aus Stein, aber sehr häßlich. Nun gut: es mag sein, daß sich mit aller Kultur auch die Anschauung davon gewandelt hat, was bei einem Haus schön ist. Daß sich die Anschauung darüber, was klein ist, gewandelt hat, glaube ich kaum. Man möchte meinen, daß die Riesen hier größere Wohnungen haben entsprechend ihrer Körpergröße. Mitnichten. Sie haben Löcher. Das Haus des Richters ist alles in allem etwa halb so groß wie der hintere Gartenpavillon, den ich immer schon einmal vergrößern lassen möchte, weil sich meine Scharlachzeisige so beengt fühlen. Aber was half das: ich mußte froh sein, überhaupt eine Behausung zu finden. Ich blieb zwei Tage beim Richter.
    Den ersten kurzen Brief, die paar Zeilen ganz am Anfang nach meiner »Ankunft« schrieb ich auf jener Brücke, noch bevor ich den ersten Riesen sah und meine Abenteuer begannen, legte ihn gleich auf den Kontaktpunkt. Nun wollte ich Dir endlich einen ausführlichen Brief schreiben. Es erhob sich die Frage, wie ich den Kontaktpunkt, jene Brücke über den »Kanal der blauen Glocken«, wiederfinden könnte. Es war mir klar, daß nur der Richter mich dorthin bringen konnte, wobei ich wohl oder übel in Kauf nehmen mußte, wieder in einem A-tao transportiert zu werden. Aber wie das dem Richter beibringen? Ich verstand ja noch kein Wort in der hiesigen Sprache zu reden. Also führte ich dem Richter so gut ich konnte, die Pantomime »Zwei Schergen nehmen den höchstehrwürdigen Mandarin Kao-tai fest« vor. Ich deutete gestisch an: »A-tao springt an einer Brücke gegen einen Baum.« Ich schwang mich glockengleich am Türstock hin und her, deutete auf den blauen Schirm der Richter-Gattin, legte mich dann auf den Boden und kräuselte, wenn man so sagen kann, meine Glieder. Sei es, daß ich keine Begabung für die Pantomime habe, sei es, daß der Kanal jetzt anders heißt, der Richter verstand nichts. Erst als ich nochmals ganz langsam und deutlich die ersten beiden Pantomimen wiederholte, dämmerte ihm etwas. Wir stiegen in sein A-tao, und an meiner freudigen Miene beim Wiedererkennen des Kanals und der Brücke erkannte der Richter, was ich gewollt hatte.
    Als ich mich auf jenen Stein setzte, das Zeitwander-Papier aus der Reisetasche zog und begann, Dir zu schreiben, war der Richter natürlich höchst neugierig zu sehen, was ich hier zu tun hatte. Er strich dauernd um mich herum und schaute mir völlig unhöflich zu. Die Sitten sind grob hier, sagte ich schon. Aber da er ja nicht lesen konnte, was ich schrieb, war es mir gleichgültig. Bevor ich dann aber den abgeschlossenen Brief auf den Kontaktpunkt legte, wo er – was für den Richter unverständlich und vielleicht furchterregend gewesen wäre – wie von Zauberhand weggenommen verschwinden würde, bat ich ihn mit Gesten, weiter weg zu gehen. Er verstand diesmal schneller und hatte Geschmack genug, meiner Bitte zu entsprechen. Sonst ist Geschmack und Zurückhaltung unter diesem Volk von Min-chen (so heißt jetzt unsere Hauptstadt) recht rar. Herr Shi-shmi, den ich von Tag zu Tag mehr
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