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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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gestern zu Abend gegessen habe«, schlug Siri vor.
    »Nein, das kann ich nicht«, knurrte Tante Bpoo und steckte die Nase wieder in ihre Karten. »Wenn Ihnen nach Tingeltangel zumute ist, müssen Sie schon nach Bangkok fahren.«
    »Aber ich dachte, Sie sind Spezialist für Taschenspielertricks«, stieß Siri mühsam, ohne den gewohnten Nachdruck hervor.
    Als Tante Bpoo von Neuem aufblickte, waren ihre Augen von demselben stumpfen Grau wie Kugellager. Sie schienen ihn geradewegs zu durchbohren. »Noch vor der zweiten Tagundnachtgleiche werden Sie, Dr. Siri Paiboun, Ihr Vaterland verraten haben.«
    »Wie bitte? Seien Sie nicht albern.«
    »Sie sind zu mir gekommen. Nicht umgekehrt.«
    »Aber ich wollte doch bloß …«
    »Und geben Sie gut Acht auf Ihren Talisman, Doktor. Die phibob liegen schon auf der Lauer. Sie warten nur auf eine günstige Gelegenheit.«
    »Wer … wer hat Ihnen das verraten?«
    Siri spürte, wie ein kalter Schauer ihm langsam das Rückgrat hinaufkroch. Diese Wahrsagerin wusste Dinge, die sie unmöglich irgendwo aufgeschnappt haben konnte. Gefährliche Dinge. Die Waldgeister hatten Siri auf einen Felsvorsprung gehetzt, der ins Tal des Todes hinausragte. Sie hatten den Geist des tausendjährigen Schamanen Yeh Ming aufgespürt, der sich in Siris Körper häuslich eingerichtet hatte. Doch um den einen zu vernichten, mussten sie den anderen eliminieren. Siri lebte in ständiger Angst vor ihnen. Er griff sich an die Brust, wo sich das weiße Zauberamulett, sein einziger Schutz gegen die phibob , warm an seine Haut schmiegte. Es befand sich unter seinem Hemd, fremden Blicken entzogen.
    »Ich sehe nicht, was hier und jetzt ist«, erklärte ihm der Transvestit. »Ich sehe nur, was kommt. Aber oftmals liefert uns die Zukunft eine Erklärung für die Gegenwart.«
    Plötzlich fing er ohne ersichtlichen Grund schrill an zu kichern. Ein Hund in der Gosse suchte panisch das Weite. Siri überkam eine böse Ahnung. Was, wenn das Monstrum, das da vor ihm saß, ein kleines Mädchen mit Haut und Haar verschlungen hatte?
    »Meine Güte. Schon so spät?«, hörte er es jetzt mit dünnem Stimmchen sagen. »Wenn ich nicht mutterseelenallein durch die dunklen Straßen gehen will, muss ich mich sputen.«
    Hastig raffte Tante Bpoo Karten und Tasche zusammen, scheuchte Siri von der Matte und rollte sie auf. Dabei bewegte sie sich wie eine Ballerina auf Heroin. Sie hatte sich in ein albernes Gör verwandelt, das Siri am liebsten mit ein paar schallenden Ohrfeigen zur Vernunft gebracht hätte, was er jedoch wohlweislich unterließ. Schließlich wog sie gut fünfunddreißig Kilo mehr als er. Stattdessen stellte er sich in den Eingang des Aeroflot-Reisebüros und sah ihr nach, wie sie davonlief und mit gezierten Trippelschritten an der schwarzen Stupa vorbeieilte. Siri hatte es vor Schreck den Atem verschlagen. Es gab nur wenige Wesen, denen er sich unterlegen fühlte, doch Tante Bpoo, der wahrsagende Transvestit, gehörte zweifellos dazu.
    Eine Hand ragte steif unter dem weißen Laken hervor. Die Handfläche nach oben gekehrt, lag sie auf dem Totentisch, als würde sie um die Rückgabe ihres kürzlich ausgehauchten Lebens betteln. Die ganz in Weiß oder Schwarz gewandeten Trauergäste schoben sich in einer ungeordneten Reihe an dem Leichnam vorbei. Einer nach dem anderen tauchte eine Blechtasse in ein tönernes Wasserbecken und träufelte ein paar Tropfen auf die aschgrauen Finger. Sie baten die Verblichene um Vergebung, falls sie noch eine Rechnung mit ihr offen hatten. Ein Stück abseits saßen vier Mönche und sangen hinter vorgehaltenen Zeremonienfächern wie schüchterne Ping-Pong-Spieler. Der sai-sin -Faden verband sie mit der Leiche und gab ihre Botschaft wie ein karmischer Telegraf an die Verstorbene weiter. Dtui stand zu Füßen ihrer Mutter und dankte den Gästen für ihr Kommen. Sie lächelten. Sie lächelte. Sie scherzten. Sie lachte. Niemandem war damit gedient, wenn man aus einer Bestattung ein Trauerspiel machte.
    Im Hof des kleinen Tempels stand ein langer Bocktisch mit Getränken im Schatten eines Goldregenbaums. Dort konnten die Gäste sitzen und ihrer lieben Freundin Manoluk gedenken. Nach ein paar Gläsern Reiswhisky würden sie vermutlich allen Anstand über Bord werfen und lauthals schlüpfrige Geschichten aus Manoluks Jugend zum Besten geben. Wenn sie keine kannten, würden sie welche erfinden. Und sie würden bestimmt über die elf Kinder sprechen, die sie geboren hatte, und mit ihren Gedanken bei Dtui
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