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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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Rasiermesser ans Gemächt gesetzt. Und damit er sich im Jenseits nicht zu weiteren Schandtaten hinreißen lassen konnte, hatte sie die Weichteile kurzerhand in Sesamöl fritiert. Bei dem Versuch, sie zu retten, war Herr Tawon verblutet. Wie Dr. Siri ganz richtig bemerkt hatte, vermochte eine Geschichte wie diese selbst dem hartgesottensten Mannsbild die Tränen in die Augen zu treiben.
    »Eine ebenso scharfe wie schmerzliche Lektion«, hatte er gesagt.
    Die Weisheit der Toten verhalf Dr. Siri Paiboun immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Trotz seiner dreiundsiebzig Jahre und seiner reichhaltigen Erfahrung auf den Gebieten der Medizin, des Krieges, der Liebe und der Politik musste er sich eingestehen, dass er noch allerhand zu lernen hatte. Viele Laoten, die halb so alt waren wie er, spielten sich gern als Experten auf. Wäre ihnen auch nur ein Bruchteil von Dr. Siris Bescheidenheit vergönnt gewesen, hätten sie gewusst, dass es für einen wahren Experten keine einfachen Antworten gab. Zwar waren nicht viele seiner Zeitgenossen so störrisch und widerborstig wie der alte Mann, doch wer so viele Jahre auf dem Buckel hatte, brauchte sich dessen wahrhaftig nicht zu schämen. Bei aller Streitlust fuhr er jedoch nur selten aus der Haut und beleidigte andere Menschen nur, wenn sie es ausdrücklich verdient hatten. Zudem war er mit schier unendlicher Geduld gesegnet. Man hatte ihn verschiedentlich mit der vietnamesischen Tausend-Jahres-Pflanze verglichen, die sich ihr Leben lang in der vagen Hoffnung wiegte, dass eines Tages ein Hirsch des Weges kommen und ihre einzige Spore in fruchtbarere Gefilde tragen möge.
    Und genau wie die Tausend-Jahres-Pflanze war der Doktor für einen Mann seines Alters noch recht gut erhalten. Sein Haar war dicht und weiß wie das Gefieder eines Zwerghuhnkükens. Seine stechenden grünen Augen funkelten immer noch so hell wie die Smaragde eines Radschas. Sein gedrungener Körper war straff und muskulös, sein Verstand schärfer denn je. Erst seit Kurzem plagte ihn das eine oder andere Gebrechen. Nachdem er sich beim Einsturz seines Hauses eine Staubvergiftung zugezogen hatte, ließ seine Lunge ihn manchmal ihm Stich. Überdies schienen ihm seit einigen Monaten die Sinne abhanden zu kommen. Nicht etwa die fünf Sinne, die einen Mann gemeinhin davor bewahren, auf einen Hahnenkampf zu wetten oder die Frau seines besten Freundes zu beschlafen. Nein, was Siri nach und nach verloren ging, waren die Sinne, denen die Welt Farbe, Geschmack und Geruch verdankte. Das Grau der Blüten und ihren schwachen Duft hätte man eventuell der Dürre zuschreiben können. Doch die Fadheit der Gewürze, die einer Speise einst das nötige Aroma verliehen hatten, ließ sich schwerlich der Trockenheit anlasten. Je vertrauter Dr. Siri Paiboun das Übernatürliche erschien, desto glanzloser erschien ihm die Natur.
    Als die Brüder den Leichnam des Eunuchen, der einst den Namen Tawon getragen hatte, in den Tempel brachten, kamen ihnen zwei junge Polizisten entgegen, die eine alte Halls-Menthol-Hustendrops-Reklametafel als Trage zweckentfremdet und die verstümmelten Überreste eines Unfalltoten darauf gebettet hatten. Auch das Schild war dem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. Die Beamten trugen uneinheitliche, schlecht sitzende Uniformen. Als sie zur Tür hereinkamen, blickte Siri in ihre knabenhaften Gesichter. Der Abstand zwischen Pubertät und Autorität schien von Tag zu Tag geringer zu werden.
    »He, Onkel«, sagte einer der beiden und stützte sein Ende der Tafel mit dem Knie. »Wohin damit?«
    Siri trat vor ihn hin und starrte dem einfältigen Bengel in die Augen. »Da ich erstens ein Einzelkind bin«, sagte er, »und mein letzter Geschlechtsverkehr zweitens gut und gerne fünfzehn Jahre zurückliegt, halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass Sie und ich verwandt sind. Insofern wäre es wünschenswert, wenn Sie mich mit ›Doktor‹ anreden würden, meinen Sie nicht auch?«
    »Hä?«
    »Tut mir leid, Doktor«, fuhr der andere Jungpolizist dazwischen. »Er ist neu. Frisch aus der Provinz. Können wir den irgendwo abladen? Er wird allmählich ein bisschen schwer.«
    Siri führte sie in den Sektionssaal und öffnete die einzige Tür der Kühlkammer.
    »Hier hinein, wenn ich bitten darf«, sagte Siri. »Was ist denn passiert?«
    »Er ist vor der Hauptpost von einem Laster überfahren worden.«
    »Wie ungewöhnlich. Er hatte ihn wohl nicht kommen sehen.«
    »Der hat gar nichts gesehen, Genosse. Der ist nämlich
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