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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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verweilen, der einzigen ihr verbliebenen Tochter, die sie verhätschelt und für deren Ausbildung sie sich krumm geschuftet hatte. Sie würden ihre Gläser auf die mollige Krankenschwester erheben, »Alles Gute« rufen, ein paar Runden Karten spielen und schließlich heimwärts wanken. Tränen würden sie keine vergießen, denn die brachten Unglück und hätten Manoluks Heimkehr ins Nirwana gefährden können. Ihre wahre Trauer würde sich allein in ihren Träumen zeigen.
    Als Siri gegen sechs Uhr schweißgebadet aufgewacht war, hatte ihm das Bild Tante Bpoos noch immer lebhaft vor Augen gestanden. Im Traum hatte er in einem französischen Bordell engumschlungen mit ihr getanzt. Ihr verlaufenes Make-up hatte auf seine Wangen abgefärbt und ihm das Aussehen eines Komantschen auf dem Kriegspfad verliehen. Die Mitglieder des Politbüros der Laotischen Volkspartei saßen mit Baskenmützen auf dem Kopf an niedrigen Tischen und schielten verstohlen zur Tanzfläche herüber. Siri spähte über die behaarte Schulter seiner Partnerin und zählte die Amts- und Würdenträger durch. Da waren, logisch, der Präsident, der Premierminister, die Minister für Landwirtschaft und Bildung. Er hatte sieben der acht Parteibonzen entdeckt und überlegte noch, wer fehlte, als plötzlich eine Bombe – eine kugelrunde schwarze Comicbombe – durch ein Fenster geflogen kam. Sie explodierte und beförderte sie alle mit einem lauten Schlag ins Jenseits.
    Als Siri aus seinem Traum schrak, war es stockfinster, und der stechende Geruch verkohlten Fleisches stieg ihm in die Nase. Er musste daran denken, wie leuchtend die Farben dort gewesen waren, verglichen mit den verwaschenen Grautönen in seinem Zimmer. Wie fruchtig der Bordellwein, wie süß der Duft der Gitanes, der die Luft geschwängert hatte. Alles Sinnliche war verschwunden, und ihm blieben nichts als bleierne Tristesse und das monotone Schluchzen einer jungen Frau. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass es aus dem Nebenzimmer kam, von Dtui.
    Sie lag neben der Leiche ihrer Mutter auf der Einzelmatratze. Viele leidvolle Jahre lang hatte Manoluk die Schmerzen der Zirrhose tapfer ertragen, um ihre Tochter zu ernähren. Nach deren Schulabschluss hatten sie die Rollen getauscht, und ein beträchtlicher Teil von Dtuis Lohn war für teure Medikamente draufgegangen, die angeblich Wunder wirkten, Manoluks Schmerzen jedoch nicht gelindert, sondern die Frau lediglich am Leben erhalten hatten – bis jetzt. Siri stand in der Tür und fragte sich, ob Dtui vor Kummer weinte oder vor Erleichterung. Endlich musste ihre Mutter nicht mehr leiden. Wäre die Matratze etwas breiter und Dtui etwas schmaler gewesen, hätte er sich zu ihnen gelegt. Er hätte Dtuis Hand gehalten und ihr einen Teil der Trauer abgenommen.
    In der schwülen Augusthitze galt es keine Zeit zu verlieren. Im Lauf des Tages machten die Hausgenossen sich mit vereinten Kräften an die Vorbereitung des Waschungsrituals und der Anfangszeremonie. Unter Siris Dach tummelte sich eine bunte Schar von schrägen Vögeln. Frau Fah und ihre Kinder überbrachten die eilig geschriebenen Einladungen. Herr Inthanet, der Puppenspieler, fuhr mit dem alten Lieferwagen seiner Verlobten zum Tempel, während Genosse Noo, der abtrünnige thailändische Waldmönch, auf der Ladefläche saß und sich um die geistlichen Bedürfnisse der Toten kümmerte. Dtui hatte sich freigenommen und sorgte für die Verpflegung. Laotische Bestattungen machten den Leuten mächtig Appetit, und das Problem der Verköstigung der Gäste lenkte die Krankenschwester ab und bewahrte sie davor, in Selbstmitleid zu versinken.
    Sie hatten jeden verfügbaren Kip geopfert, damit Dtui kaufen konnte, was der Markt hergab. Und das war weiß Gott nicht viel. In Vientiane kam das Einkaufen inzwischen einem Lotteriespiel gleich. Obst und Gemüse waren nach und nach aus dem Angebot verschwunden. Die Bauern durften zwar ihre Familien versorgen, mussten jedoch horrende Steuern auf alles entrichten, was sie zum Verkauf anbauten. Eine erstaunlich widersinnige Politik. Denn statt die Märkte mit frischen Naturprodukten zu versorgen und dringend benötigtes Geld in die Staatskassen zu spülen, drehte die Regierung das Rad der Geschichte zurück in eine Zeit, als die Laoten nach alter Tradition gerade so viel produzierten, wie sie zum Überleben brauchten. Tatkraft und Erfindungsgeist gehörten nicht unbedingt zu den Stärken der laotischen Landbevölkerung. Der Versuch, aus welken
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